Nord-Israel: See Genezareth und die Golanhöhen, Dienstag, 29.10.2019 bis Samstag, 2.11.2019
Es ist bestes Wetter in Jerusalem, als wir nach unserem kurzen Aufenthalt in Ramallah (Westjordanland) wieder dort ankommen. Ab 12 Uhr können wir unseren Mietwagen in Empfang nehmen, womit ein ganz neuer Abschnitt unseres Israel-Abenteuers beginnt. Auf dem Zentralmarkt Mahane Yehuda versorgen wir uns noch mit frischem Gemüse für ein leckeres Abendessen, dann holen wir unser Auto ab. Es ist schon fast 13 Uhr, als wir schließlich aus Jerusalem herausfahren. Ca. 180 km liegen bis zu unserem heutigen Ziel, dem Kokhav HaYarden National Park im Nordosten Israels vor uns. Auf dessen Gelände befindet sich nicht nur Belvoir, die Ruine einer Kreuzfahrerburg, dort soll es auch einen einfachen Campingplatz geben, wo wir heute übernachten möchten. Zu Beginn läuft alles gut, auf den Autobahnen 1 und 6 ist zwar viel los, aber wir kommen zügig voran, teilweise fahren wir sehr nah an den Sperranlagen vorbei, die auf einer Länge von ca. 760 km Israel und das Westjordanland trennen. Die umstrittenen Anlagen, mit deren Bau 2002 als Reaktion auf die zunehmenden Selbstmordattentate im israelischen Kernland während der Zweiten Intifada begonnen wurde, bestehen überwiegend aus einem elektrisch gesicherten Metallzaun mit Stacheldraht, an besonders heiklen Stellen wird aus ihnen auf ca. 30 km eine bis zu 8 m hohe Betonmauer - bei Jerusalem und der palästinensischen Stadt Qalqiliya, die wir heute auch passieren und die unmittelbar an der sogenannten Grünen Linie liegt, der Waffenstillstandslinie zwischen Israel und dem Westjordanland von 1949. Die Absperrungen erfüllten ihren Zweck und führten zu einer nachhaltigen Reduzierung von Selbstmordanschlägen, die vor allem von Palästinensern aus dem Westjordanland verübt wurden, die bis dahin mehr oder weniger problemlos jederzeit aus dem Westjordanland nach Israel fahren konnten. Aus israelischer Sicht sind die Sperranlagen also zum Schutze der eigenen Bevölkerung verständlicherweise absolut notwendig. Die Palästinenser sehen das natürlich anders, aus ebenfalls nachvollziehbaren Gründen. Für sie bedeutet der „Sicherheitszaun“, wie er von den Israelis auch genannt wird, in vielerlei Hinsicht erhebliche Beeinträchtigungen und Einschränkungen und zudem den Verlust von Territorium. Die Sperranlagen verlaufen nämlich zu 80 % auf palästinensischem Gebiet und nicht auf der Demarkationslinie von 1949, die mit der Grünen Linie identisch ist. Zum Teil ragen sie tief in das Westjordanland hinein, um israelische Siedlungen einzubeziehen, an einer Stelle sind sie gar ca. 20 km von der Grünen Linie entfernt… Viele Palästinenser verloren dadurch entschädigungslos Land. Wie bei allen Facetten des Nahost-Konflikts ist auch hier keine Lösung in Sicht, im Gegenteil, die Gegensätze scheinen schier unüberbrückbar.
Auf unserer Fahrt in den Norden Israels entfernen wir uns schließlich von den Sperranlagen und geraten vor Afula in einen Megastau, der uns sehr viel Zeit kostet. Es dämmert schon, als wir gegen 17 Uhr Beit She'an, eine Kleinstadt im Jordantal erreichen, wo wir nach Norden Richtung See Genezareth abbiegen müssen. Die frühe Dunkelheit, die wir schon in Tel Aviv und Jerusalem als nachteilig empfanden, ist jetzt, wo wir mit dem Auto unterwegs sind und teilweise auch zelten möchten, eine echte Beeinträchtigung. Ungefähr auf halber Strecke zwischen Beit She'an und dem See Genezareth biegen wir links auf eine Stichstraße ab, die sich in Serpentinen zum Kokhav HaYarden NP hochschraubt, der auf einer Anhöhe ca. 550 m über dem Jordantal liegt. Die schöne Aussicht, für die der Nationalpark mit seiner französischen Kreuzfahrerburg Belvoir bekannt ist, können wir heute Abend allerdings nicht mehr genießen, es ist stockfinster, als wir oben ankommen. Wir irren eine Weile auf einer mit Schlaglöchern übersäten Piste umher, können aber außer einer frei laufenden Kuhherde und ihren Hinterlassenschaften nichts entdecken, es gibt keinen Hinweis auf den Nationalpark, geschweige denn auf einen Campingplatz, wir sehen auch keine Lichter. Wild zelten wollen wir zwischen den Kühen und ihren Fladen nicht, auch ist der Untergrund steinig und uneben. Also fahren wir wieder zurück ins Jordantal und weiter zum südlichen Ende des See Genezareth , unsere Handy-Landkarte verzeichnet dort zwei Campingplätze, aber auch diese können wir in der Dunkelheit nicht finden. Die Odyssee geht weiter, eine Option haben wir noch, in dem kleinen Ort Shadmot Dvora nahe dem Berg Tabor soll es einen weiteren Campingplatz geben. Dazu müssen wir über eine schmale kurvenreiche Straße wieder aus dem Jordantal heraus auf eine Art Plateau fahren. Den Campingplatz können wir nach langem Suchen tatsächlich aufspüren, aber er ist heute Abend voll belegt mit einer Schulklasse. Die Betreiberin lässt sich auch nicht erweichen, als wir anbieten, mit einer kleinen Ecke für unser Zelt zufrieden zu sein. Mit Hilfe von OruxMaps machen wir schließlich einen Feldweg in der Nähe von Shadmot Dvora ausfindig und stellen unser Auto etwas abseits davon. Wir trauen uns nicht, das Zelt aufzubauen, weil wir die Gepflogenheiten in Israel bezüglich Wildcampen noch nicht kennen, außerdem ist es stockfinster, weshalb es auch schwierig wäre, einen geeigneten Platz auszumachen. So verbringen wir leidlich schlafend eine ziemlich unbequeme Nacht auf den Autositzen.
Weiter geht es nach Tiberias, eine der vier heiligen Städte des Judentums, hier lebten viele bekannte Gelehrte und Rabbiner. Schon bei der Anfahrt haben wir tolle Blicke auf die größte Stadt am See Genezareth und im Jordantal. Die Israelis reisen aber nicht nur an, um die Gräber der jüdischen Weisen aufzusuchen, sondern auch wegen der Strände, des Wassersports, der Bars und der Restaurants. Wir machen einen Spaziergang entlang der Uferpromenade, die teilweise durch hässliche Bausünden verschandelt ist, und genießen die tollen Blicke auf den See, den mit 212 m unter dem Meeresspiegel am tiefsten gelegenen Süßwassersee der Erde. Er zieht auch christliche Pilger an, denn an den Ufern des biblischen Gewässers soll Jesus die Bergpredigt gehalten und etliche Wunder vollbracht haben, die Brotvermehrung, den Gang über das Wasser - also weiter links um den See herum auf den Spuren Jesu. Unser erster Stopp ist der Berg der Seligpreisungen hoch über dem Genezareth, auf dem eine achteckige, relativ neue, im italienischen Stil erbaute Kirche aus dem Jahre 1937 thront, die wie die dazugehörige Pilgerherberge von Franziskanerinnen betreut wird. Es herrscht sehr großer Andrang hier oben, in der schönen Kirche schauen wir uns deshalb nur kurz um, beim Spaziergang durch die gepflegten Gärten genießen wir aber ausgiebig die phantastischen Blicke auf den See. Ein bisschen jesusmüde sind wir mittlerweile und lassen deshalb unten am Genezareth einige heilige Stätten aus. So verpassen wir die Brotvermehrungskirche („Tabgha“), wo Jesus Brot und Fische dergestalt vermehrt haben soll, dass sie 5000 Leute sättigten. In Kapernaum halten wir zwar an, aber der Andrang ist so groß, dass wir auf eine Besichtigung der archäologischen Stätte verzichten, die dem Neuen Testament zufolge eine Zeitlang der Wohnort Jesu war. Ein Stück dahinter liegt am Ufer des Genezareth das sehr fotogene griechisch-orthodoxe Kloster der Zwölf Apostel, das wir aber auch nur von außen ansehen. Wir umrunden den See an seiner nördlichen Spitze und halten am östlichen Ufer noch für einen kurzen Spaziergang in einem Naturschutzgebiet. Der Kinneret, wie der Genezareth auf Hebräisch heißt, ist den Israelis nicht nur aus religiösen Gründen und wegen der Freizeitmöglichkeiten wichtig, der See, durch den der Jordan fließt, dient Israel auch als zentrale Trinkwasserversorgung und zur Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen. Jordanien wird nach einem Vertrag von 1994 ebenfalls teilweise aus dem See versorgt, dessen Wasserstand in Abhängigkeit von Niederschlägen stark schwankt, was in der israelischen Öffentlichkeit ein großes Thema ist und mit Spannung verfolgt wird, vor allem wenn der Pegelstand in den kritischen Bereich der „Roten Linie“ rückt, der auf Dauer den Salzgehalt steigen ließe und somit die Wasserqualität beeinträchtigen würde. Wasserknappheit ist ein permanentes Thema in weiten Teilen des Nahen Ostens und führt immer wieder zu Auseinandersetzungen mit den Nachbarländern Israels und dem Westjordanland über die gerechte Aufteilung der Wasserressourcen. Mittlerweile deckt Israel einen großen Teil seines Trinkwasserverbrauchs zwar aus entsalztem Mittelmeerwasser, aber der See Genezareth hat immer noch große Bedeutung. So wurde mit großer Sorge beobachtet, dass der Wasserspiegel des Kinneret in den letzten Jahren nach einigen sehr trockenen Wintern auf einen historischen Tiefstand sank, was die liberale israelische Zeitung „Haaretz“ zu dem launigen Kommentar veranlasste, dass Jesus unter solchen Voraussetzungen sein Gang übers Wasser auch ohne ein Wunder gelungen wäre… Das alles recherchieren wir bei unserer kurzen Pause am östlichen Ufer des Genezareth. Im Winter 2019/2020 wurde Israels wichtigstes Trinkwasserreservoir übrigens durch starke Regenfälle und Schneeschmelze wieder bis zum Rand aufgefüllt, so voll sogar, dass über die Öffnung des Degania-Damms am Südende des Sees nachgedacht wurde. Die israelische Wasserbehörde schaut trotzdem sorgenvoll in die Zukunft, weitere trockene Jahre sind zu befürchten…..
Wie verabredet finden wir uns am Abend bei R. und S. im Kibbuz G. auf den südlichen Golanhöhen ein und werden sehr nett aufgenommen. R. holt uns am Tor des umzäunten Geländes ab, der Zaun sei gegen Tiere, erklärt er uns, nicht gegen Menschen. In diesem Zusammenhang erwähnt er auch fast entschuldigend, dass er die Sperranlagen zwischen Israel und dem Westjordanland zwar nicht gut findet, dass aber seitdem die Anzahl der Übergriffe, auch auf Kibbuzim der Golanhöhen, deutlich zurückgegangen sei - auf unsere Solidarität kann er zählen. Bei einer Reise durch Israel beginnt man Verständnis für das starke Sicherheitsbedürfnis der Israelis zu entwickeln, das sich aus der Geschichte des Staates und der Juden erklären lässt. R. und S. sind mittleren Alters, R.s Familie stammt ursprünglich aus Rumänien, S. ist Kurdin aus Syrien. Die beiden haben vier erwachsene Kinder und gehören zu den Mitbegründern dieses Kibbuz, der 1971 mit zwei Häusern startete und sich in seinen Anfängen der Grundidee der Kibbuzim verpflichtet fühlte: Man lebte zusammen in einer landwirtschaftlich geprägten, nach sozialistischen Prinzipien organisierten, solidarischen Gemeinschaft, hatte gemeinsames Eigentum, gemeinsame Einrichtungen, verrichtete gemeinsam alle Arbeiten etc. , nach dem Motto: Jeder arbeitet und setzt sich nach seinen Möglichkeiten ein und bekommt dafür, was er zum Leben braucht. R. erzählt uns, dass es z.B. früher bei ihnen keine Privatautos gab. Wenn man einen Wagen brauchte, musste man sich rechtzeitig in eine Liste eintragen, um über eins der 10 zur Verfügung stehenden Kibbuz-Autos verfügen zu können. Alles Geld wurde in einen Topf geworfen und von der Kommune verwaltet etc. Wie so viele andere Kibbuzim erfuhr aber auch dieser eine Privatisierung, jeder besitzt heute sein eigenes Auto und Haus, das verdiente Geld bleibt in der eigenen Tasche, die Landwirtschaft wurde weitgehend aufgegeben. Aber man empfindet sich immer noch als Gemeinschaft und verwaltet als solche gemeinsame Projekte, z.B. betreibt der Kibbuz eine kleine Fabrik, die professionell hochwertiges Olivenöl produziert, und besitzt eine große Kuhherde. Das alles erzählt uns R. bei einem Rundgang über das Gelände. Der frühere Gemeinschaftsraum wurde mittlerweile in einen Pub verwandelt, u.a. um mehr Geselligkeit zu bieten und die jungen Leute im Ort zu halten. Wie viele andere Kibbuzim hat auch dieser mit starker Abwanderung der Jüngeren zu kämpfen, die beiden Töchter von R. und S. z.B. leben und arbeiten in Tel Aviv, obwohl sie dort trotz guter Jobs wegen der hohen Lebenshaltungskosten kaum Erspartes zurücklegen können. Während unseres Rundgangs hat S. das Abendessen vorbereitet, es gibt Hummus, Tahina, Labneh, eine Art Frischkäse, Gurken, Tomaten und Fladenbrot, sehr lecker. Danach sitzen wir noch eine Weile zusammen. Unsere Gastgeber reisen genauso gerne wie wir und nutzen dabei auch Airbnb. S. erzählt uns in diesem Zusammenhang von einem Erlebnis in Malmö/Schweden, wo ihren Airbnb-Gastgeber, einen Iraner, das blanke Entsetzen packte, als er realisierte, dass er Israelis beherbergen sollte. Sie seien Feinde, meinte er, und könnten deshalb nicht bei ihm übernachten. Er ließ sich auch nicht beirren, als S. anmerkte, letzten Endes seien sie doch alle Menschen und alles andere sei Politik. Am Ende blieben sie trotzdem dort, weil sich so kurzfristig keine andere Unterkunft anbot und der Iraner wohl nicht seinen Rauswurf bei Airbnb riskieren wollte, aber S. tat verständlicherweise in dieser Nacht kein Auge zu…. Das nur als Beispiel dafür, mit welchen Anfeindungen und welchem Fanatismus Israelis rechnen müssen, wenn sie in der Welt unterwegs sind.
Außerdem sind die Golanhöhen für Israel auch aus Gründen der Wasserversorgung wichtig. Sie sichern nicht nur den alleinigen Zugang zum See Genezareth, der bedeutendsten Trinkwasserquelle des Landes, sondern auch die weitgehende Kontrolle über die drei Quellflüsse des Jordan, von denen nur einer auf israelischem Gebiet entspringt, ein anderer hat seinen Ursprung im Libanon, der dritte auf den vormals syrischen Golanhöhen. Die Sorge, Syrien könne Israel auf den Golanhöhen sozusagen das Wasser „abgraben“ ist durchaus berechtigt und ein Grund dafür, dass Israel sich weigert, das Gebiet zurückzugeben, denn es gab immer schon arabische Pläne, die Quellflüsse des Jordan zum Nachteil von Israel zu stauen oder abzuleiten. Wie bei allen Aspekten des Nahost-Konflikts ist auch hier keine Lösung in Sicht.
Nachdem wir den Peace Lookout ausgiebig genossen haben, fahren wir auf der 98 Richtung Norden, stoppen in der Nähe von Afik kurz an einer Stelle, von wo aus man nach Syrien und Jordanien schauen kann. R. erzählt uns, dass die Böden erst von dicken Steinen befreit werden mussten, bevor man hier Felder bestellen konnte, das sei harte Arbeit gewesen. Heute wird ein großer Teil des Golan landwirtschaftlich genutzt, zum Anbau von Oliven, Wein, Äpfeln, Kirschen und als Weidegebiet für Rinder und Schafe. Beim Weiterfahren sehen wir immer wieder verfallende syrische Häuser und Schilder, die vor Minen warnen, eine Hinterlassenschaft des syrischen Militärs, die nur schwer zu beseitigen ist, da Israel keine Kartographie der gefährlichen Fallen besitzt. Eigentlich planen wir, irgendwann einmal den 125 km langen Golan Trail zu laufen, der sehr schön sein soll, aber als Wanderer muss man hier wegen der Minen wirklich vorsichtig sein. Unser nächster Stopp ist ein Hügel etwas abseits der Straße 98 kurz hinter dem kleinen Ort Ramat Magshimim. Tel Saki, so heißt die Erhebung vulkanischen Ursprungs, ist gleichzeitig eine Gedenkstätte für 32 israelische Soldaten, die hier während des Jom-Kippur-Kriegs, der vom 6. bis 25. Oktober 1973 dauerte, bei erbitterten Kämpfen ihr Leben verloren, darunter ein Bekannter von S., sie zeigt uns sein Foto auf einer Gedenktafel. In einem Bunker, den man heute noch sehen kann, hatten sich 12 Israelis versteckt, die von den vorrückenden Syrern nicht entdeckt wurden. Zwei Tage harrten sie in Todesangst aus, bis sie wieder in Sicherheit waren, so R. und S., ohne die wir diese Stelle nie gefunden hätten. Tel Saki ist nur ein Schauplatz in einem Krieg, der auf beiden Seiten zu hohen Verlusten führte. Wie ein Mahnmal steht noch ein verrottender israelischer Panzer hier und die Besucher können durch die Geschützstellungen klettern. Am 6. Oktober 1973, dem Tag des jüdischen Jom-Kippur-Festes, griffen Syrien und Ägypten Israel an zwei Fronten an. Israel wurde an seinem höchsten Feiertag von dem Angriff völlig unvorbereitet überrascht und geriet zunächst stark in die Defensive. Die Syrer rückten mit 1400 Panzern auf die Golanhöhen vor, fest entschlossen, das im Sechstagekrieg verlorene Gebiet wieder zurückzuerobern, und konnten tatsächlich vorübergehend die Kontrolle über den Golan gewinnen. Aber den Israelis gelang nach dem ersten Schock eine erstaunlich schnelle Mobilisierung der Streitkräfte und in einer Gegenoffensive wurden die Syrer bis auf 32 km vor Damaskus zurückgedrängt. In wenigen Tagen war die syrische Armee besiegt und musste mehr als die Hälfte ihrer Panzer auf dem Golan zurücklassen, der letzten Endes bei Israel blieb. Für die Israelis war der Krieg trotz des Erfolgs eine traumatische Erfahrung, hatte doch die israelische Armee bis dahin den Nimbus der Unbesiegbarkeit. Ministerpräsidentin Golda Meir und ihr Verteidigungsminister Mosche Dayan mussten zurücktreten, weil sie nicht erklären konnten, wie der offenbar von langer Hand vorbereitete arabische Angriff dem israelischen Geheimdienst Mossad verborgen bleiben konnte.
Weiter geht es zum Mount Bental, einem weiteren erloschenen Vulkan mit einer Höhe von 1171 m, auf dessen Spitze sich ein Aussichtspunkt und ein Café befinden, außerdem kann man durch Schützengräben klettern und einen Bunker besichtigen. Die Attrappen von kämpfenden Soldaten verweisen ebenfalls auf die erbitterten Kämpfe, die hier stattfanden, als die Israelis sich zu Beginn des Jom-Kippur-Krieges der Übermacht von 1400 syrischen Panzern stellen mussten. Der Rundumblick vom Mount Bental ist phantastisch, auf die Hulaebene mit dem Libanon in der Ferne, das Hermongebirge und nach Syrien – die Grenze liegt nicht weit entfernt und ist von dem Aussichtsberg gut erkennbar, ebenso Qunaitra, einst die größte syrische Stadt auf den Golanhöhen mit ca. 30.000 Einwohnern, 1967 während des Sechstagekrieges von Israel besetzt, im Jom-Kippur-Krieg 1973 zeitweise von Syrien zurückerobert, dann von den geschlagenen Syrern verlassen und heute eine zum großen Teil zerstörte Geisterstadt, in der nur noch wenige Menschen leben. Nach dem Jom-Kippur-Krieg wurde 1974 in dem Grenzstreifen zwischen Israel und Syrien eine Pufferzone eingerichtet, die sich in unterschiedlicher Breite vom Libanon bis nach Jordanien zieht und von UN-Truppen kontrolliert wird, um weitere militärische Auseinandersetzungen zwischen Israel und Syrien zu verhindern, Qunaitra liegt heute in dieser Pufferzone. Damaskus ist vom Mount Bental nur noch ca. 60 km entfernt. R. und S. erzählen uns, dass sie auf dem Höhepunkt des syrischen Bürgerkriegs vor allem nachts durch Kampfgeräusche geweckt wurden und sich damals auch Bomben auf den Golan verirrten.
Weiter geht es Richtung Norden, der nächste Stopp ist ein Weinanbaugebiet, für das R. einmal verantwortlich war, er möchte bei seinen früheren Mitarbeitern vorbeischauen, die heute ein Barbecue machen. Wir bleiben eine Weile und dürfen von dem leckeren Essen probieren. Dann ernten wir in einer Plantage gleich nebenan Äpfel und fahren anschließend noch weiter nördlich ins Drusengebiet. Während nahezu alle arabischen Bewohner nach der israelischen Eroberung der Golanhöhen im Sechstagekrieg 1967 flohen bzw. vertrieben wurden, ließen die Israelis die syrischen Drusen, eine arabischsprachige Religionsgemeinschaft, die im 11. Jahrhundert als Seitenzweig des schiitischen Islam entstand, weiterhin dort wohnen, in der Hoffnung, dass sie sich, wie ihre übrigen in Israel ansässigen Glaubensgenossen, langfristig loyal gegenüber Israel verhalten und integrieren würden. Die Golan-Drusen fühlen sich aber eigentlich als Syrer und lehnten z.B. mehrheitlich das Angebot ab, israelische Staatsbürger zu werden. Die Integration gelang nur teilweise, es kam immer wieder zu Protesten, wenn auch nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs die Bereitschaft stieg, die israelische Staatsbürgerschaft anzunehmen und sich nicht mehr so sehr nach Syrien zu orientieren, wo viele noch verwandtschaftliche Beziehungen pflegten oder studierten. Heute leben in mehreren Dörfern ca. 25.000 Drusen auf dem Golan und etwa ebenso viele jüdische Bewohner. Wir besuchen zwei Drusenorte, Buq'ata und Mas'ada, wobei letzterer heute unser nördlichster Punkt ist. R. und S. erzählen uns, dass die Golan-Drusen traditionell von der Landwirtschaft leben, insbesondere dem Anbau von Äpfeln. Da sie eine eigenwillige Auslegung des Koran pflegen, z.B. glauben sie an die Wiedergeburt, was der Koran nicht vorsieht, wurden sie in der Vergangenheit von orthodoxen Moslems oft der Häresie beschuldigt und verfolgt, weshalb sie sich in entlegene Bergregionen, wie z.B. den nördlichen Golan, oder andere Randgebiete zurückzogen. Die Drusen machen um ihre Religion ein großes Geheimnis, so dass Regeln und Einzelheiten dazu außerhalb ihrer Gemeinschaft nicht wirklich bekannt sind und man deswegen sogar von einer Geheimreligion spricht. Drusen dürften nur untereinander heiraten, erklärt R., wer in eine andere Religion einheirate, werde verstoßen. In Buq'ata findet heute eine Art Flohmarkt statt, den wir uns kurz anschauen. Die drusischen Frauen, die wir hier sehen, sind nicht verschleiert, sie tragen nur locker ein weißes Tuch als Kopfbedeckung und dazu dunkle Kleider. Mas'ada liegt schon sehr weit im Norden am Fuße des Hermongebirges, auch hier steigen wir aus und schlendern über einen kleinen Markt mit Obst, Gemüse und Gewürzen. Auf dem Rückweg halten wir noch für einen drusischen Imbiss, dünnes Fladenbrot, auf einer Art umgedrehtem Wok über offenem Feuer frisch zubereitet, und mit Labneh und Za'atar serviert, sehr lecker.
Am späten Nachmittag sind wir wieder „zu Hause“. R. und S. bereiten ein ziemlich aufwendiges Sabbat-Essen vor, wollen dabei aber keine Hilfe von uns, also ziehen wir uns zurück, ich habe viel in mein Tagebuch zu notieren über den heutigen Tag. Der jüngere Sohn der Familie kommt später anlässlich des Sabbat mit seiner Frau vorbei. R. spricht zu Beginn des Essens ein Gebet, bricht Brot, das dann reihum gereicht wird. R. und S. haben durchblicken lassen, dass sie säkulare Juden sind, der ganze Abend verläuft also ziemlich locker. Der ältere Sohn dagegen ist orthodox und lebt mit seiner Familie in einem religiösen Kibbuz in der Nähe. R. und S. tischen ein wahres Festessen mit mehreren Gängen auf, Ofenkartoffeln und -gemüse, Hähnchen, Schnitzel, gebratene Auberginen, Reis, Brot, es schmeckt köstlich. Später gehen wir mit R. und S. noch zu Nachbarn, die in geselliger Runde mit Familie und Freunden den Sabbat feiern. Wenn es Vorbehalte gegenüber uns als Deutsche gibt, lässt sich das zumindest niemand anmerken. Großes Aufhorchen, als R. erzählt, dass wir in Ramallah waren, da wird nachgefragt. Auch R. und S. erkundigten sich aufmerksam nach unseren Eindrücken vom Westjordanland. Es war ein spannender, sehr interessanter Tag, durch den Aufenthalt bei R. und S. und ihre unvoreingenommene Gastfreundschaft haben wir einen ganz anderen Zugriff auf Israel bekommen.
Süd-Israel – Totes Meer/Masada und Negev-Wüste: Samstag, 2.11.2019 bis Freitag, 15.11.2019
Gestern Abend haben wir mit R. über unsere weitere Route gesprochen, er hat uns versichert, dass wir Richtung Süden die Straße 90 nehmen können, die teilweise durch das palästinensische Westjordanland verläuft, das seit dem Sechstagekrieg 1967 von Israel besetzt ist. Uns war nicht klar, dass das mit unserem Mietauto möglich ist, ohne R.s Rat wären wir einen großen Umweg durch das israelische Kernland gefahren. Seit dem „Oslo-II“- Abkommen von 1995 ist das Westjordanland in drei Zonen unterteilt, die Straße 90 liegt in der Zone C, die dünn besiedelte Landstriche, palästinensische Dörfer und israelische Siedlungen umfasst, ca. 60 % des Gesamtgebiets ausmacht und sowohl zivilrechtlich als auch in Sicherheitsbelangen israelischer Kontrolle untersteht. Nur in Zone A, ca. 20 % des Gesamtgebiets, haben die Palästinenser die alleinige Kontrolle, es handelt sich um die großen Städte wie z.B. Ramallah, Bethlehem und Jericho. Israelis ist es aus nachvollziehbaren Gründen von Staats wegen untersagt, die Zone A zu betreten, sie müssten mit Übergriffen durch Palästinenser und Gefahr für Leib und Leben rechnen. Für uns als Touristen wäre die Zone A zwar kein Problem, aber wegen des israelischen Auto-Kennzeichens könnten wir mit Israelis verwechselt werden, wahrscheinlich ist aber Zone A in unserem Mietwagenvertrag eh ausgeschlossen. Bleibt noch Zone B, ländliche Gebiete und ca. 20 % der Gesamtfläche, hier haben die Palästinenser zivilrechtlich das Sagen, die Sicherheitsverwaltung müssen sie sich mit den Israelis teilen. Die Grenze zum Westjordanland, wie sie auf unserer aus Deutschland mitgebrachten Landkarte eingezeichnet ist, findet man auf israelischen Karten übrigens nicht, so R. gestern Abend, sie zeigen nur eine Einteilung in die drei Zonen und bezeichnen das Westjordanland ansonsten mit dem israelischen Namen Samaria und Judäa…
Ca. 250 km liegen bis nach Arad vor uns, südlich des See Genezareth erreichen wir bald die Straße 90, die als wichtige Nord-Süd-Achse eine schnelle Verbindung der südlichsten israelischen Stadt Eilat mit dem äußersten Norden Israels sicherstellt, sie ist auch wirtschaftlich und militärstrategisch von großer Bedeutung. Ab dem See Genezareth verläuft sie durch das breite Tal des Jordan, mehr oder weniger parallel zum Fluss, der hier die Grenze zwischen Israel und Jordanien bildet.
Kurz hinter Beit She'an erreichen wir schon den Kontrollpunkt zum Westjordanland bzw. zur C-Zone. Ein mulmiges Gefühl haben wir schon, wir fahren ja ein Auto mit israelischem Kennzeichen, aber R. und S. haben uns versichert, dass sie Richtung Süden auch immer die 90 nehmen, das sei völlig problemlos. Trotzdem steigen wir nur für ein paar wenige Fotos aus und fahren ansonsten ohne längere Stopps durch, anzuschauen gibt es allerdings unterwegs eh nicht viel, das Gebiet, das wir durchfahren, ist ländlich geprägt. Wir sehen eingezäunte Dörfer, hier leben wohl israelische Siedler, und solche, wahrscheinlich palästinensische, die frei zugänglich sind, aber wir trauen uns nicht, dort anzuhalten. Ca. 450.000 Israelis leben mittlerweile in Siedlungen im Westjordanland, weitere ca. 200.000 im 1967 von Israel besetzten und 1981 annektierten Ost-Jerusalem. Der Siedlungsbau wird von der israelischen Regierung vorangetrieben und gefördert und erhielt zusätzlich starken Auftrieb durch einen Vorstoß der Trump-Administration im Jahre 2020 für einen sogenannten Friedensplan zur Lösung des Nahost-Konflikts, der im Grunde die vollständige Kapitulation der Palästinenser vorsah. Die Israelis sollten sämtliche Siedlungen behalten und neue ohne Absprache gründen dürfen etc. Kein Wunder, dass die Palästinenser auf die Barrikaden gingen und es zum ersten Mal seit langer Zeit in Ramallah wieder zu Ausschreitungen und Demonstrationen kam - und ohne Worte, dass Trump u.a. für diesen Vorstoß, der mehr Zwietracht hinterließ als Frieden und eigentlich vorrangig seine evangelikale Klientel in den USA mit Blick auf die Wahl im November 2020 ködern sollte, auch noch mit dem Friedensnobelpreis geadelt werden wollte. Israel ist ein kleines Land, Wohnraum knapp und teuer, in den Siedlungen im Westjordanland und in Ost-Jerusalem liegen die Preise deutlich niedriger – insofern kein Wunder also, dass es viele junge Israelis, auch säkulare, trotz der feindlichen Umgebung in diese Gebiete zieht, können sie sich doch dort großzügigen Haus- und Grundbesitz leisten.
An der Abzweigung nach Jericho, einer der Städte, die im Westjordanland in Zone A liegen und somit unter palästinensischer Kontrolle stehen, warnen große Schilder, dass es israelischen Staatsbürgern untersagt ist, diese Zone zu betreten. Kurze Zeit später erreichen wir das abflusslose Tote Meer, den mit 428 m unter dem Meeresspiegel am tiefsten gelegenen See der Erde mit einem Salzgehalt so hoch, dass man beim Baden nicht untergehen kann. Hier mündet der Jordan bzw. das, was noch von ihm übrig ist. Als wichtigste Wasserquelle für Israel und Jordanien verliert er unterwegs so viel Wasser, dass er am Ende eher zu einem Rinnsal verkommt. Aus Richtung Süden herrscht jetzt sehr viel Verkehr, heute ist Samstag, viele Israelis mögen auf dem Heimweg aus dem Sabbat sein. Bis zur Abzweigung nach Arad fahren wir nun am Toten Meer vorbei und halten immer wieder für Fotos. Die Blicke auf das blaue Wasser des Sees und seine weißen Salzkrusten tief unter uns sind unfassbar schön, rechts von der Straße ragen steile Felsen auf, die den Rand der Judäischen Wüste kennzeichnen, es ist eine traumhafte, irgendwie surreale Landschaft. Schließlich passieren wir wieder einen Kontrollpunkt, wir werden einfach durchgewunken, verlassen kurze Zeit später das Westjordanland und erreichen nach einer längeren Abfahrt den Kibbuz Ein Gedi und damit wieder israelisches Kerngebiet, da dämmert es schon. Stockfinster ist es, als wir am südlichen Ende des Toten Meers in Neve Zohar von der 90 abbiegen und in vielen Serpentinen hinauf nach Arad fahren, wo wir heute Abend von A. und R. erwartet werden und pünktlich um 18 Uhr eintreffen. Wir werden überaus nett empfangen und speisen an diesem fast lauen Novemberabend draußen auf der Terrasse. R. hat sehr lecker gekocht, es gibt eine Linsensuppe nach israelischer Art, mehrere Salate, Pilzomelette, Blätterteigtaschen mit verschiedenen Füllungen, frittierten Blumenkohl und vieles mehr, Käsekuchen und Granatapfelkerne zum Nachtisch. Wir sind, wie auf den Golanhöhen, sehr dankbar für diese Gastfreundschaft, wird sie uns doch zuteil, obwohl wir aus Deutschland kommen und zumal wir im Laufe des Abends erfahren, dass Familienangehörige von A. in Auschwitz getötet wurden. A. und R. sind sehr interessante Gesprächspartner, wir erfahren an diesem Abend viel über Israel. Z. B. über Benjamin Netanjahu, allgemein „Bibi“ genannt, seit über einem Jahrzehnt Ministerpräsident Israels, aufgewachsen in den USA, Harvard-Absolvent, hochintelligent, charismatisch, aber auch selbstverliebt, verführbar und korrupt. Die Bedrohung von außen empfinden A. und R. als sehr real, und jedem Israeli wird das vor Augen geführt, wenn er den Wehrdienst ableistet, für Frauen sind das zwei Jahre, für Männer waren es ursprünglich sogar drei, die aber mittlerweile auf 2 ½ verkürzt wurden, eine sehr lange Zeit, junge Israelis starten deshalb erst sehr spät ins Berufsleben oder Studium. Andererseits würde aber während des Wehrdienstes auch vieles gelehrt, was nichts mit militärischen Dingen zu tun habe, insofern könne man diese Zeit nicht ganz als verloren betrachten, so unsere Gastgeber. Dass sie nicht mal eben so, wie wir in Europa z.B., in ein Nachbarland reisen können, empfinden sie als große Einschränkung. Umgeben von Nachbarstaaten, die sich alle mehr oder weniger die Auslöschung Israels auf ihre Fahnen geschrieben haben, fühlen sie sich hier wie auf einer Insel, die sie nur mit dem Flugzeug verlassen können, auch R. und S. von den Golanhöhen hatten das als großen Nachteil beklagt. Trotz allem befürchtet A. aber eher, dass sich Israel von innen zerstören könne. Er spielt damit auf die ultraorthodoxen Juden an. Da sie bei den Wahlen oft das Zünglein an der Waage sind, d.h. ohne ihre Unterstützung keine Regierungsmehrheiten zustande kommen, werden sie z.B. von Netanjahu, der selbst eine ultraorthodoxe Tochter hat, entsprechend hofiert und können, obwohl nur ca. 15 % der Gesamtbevölkerung, großen Einfluss auf Politik und Gesellschaft in Israel nehmen. So haben sie z.B. durchgesetzt, dass am Sabbat öffentliche Verkehrsmittel ihren Betrieb einstellen und sogar die Flugzeuge von El Al, der israelischen Nationalfluglinie, am Boden bleiben. Ginge es nach ihnen, dann würde aus Israel ein Religionsstaat, zur Freude der arabischen Nachbarn wahrscheinlich, zumal viele Ultraorthodoxe auch den Staat Israel ablehnen, denn die Staatsgründung steht ihrer Meinung nach nur dem Messias zu und nicht den Menschen. Bei den „Charedim“, wie man die Ultraorthodoxen in Israel nennt, werden Jungen und Mädchen schon im Alter von 3 Jahren voneinander getrennt und in separaten charedischen Kindergärten und Schulen erzogen, die keine umfassende Bildung anstreben wie normale Schulen, sondern den Fokus auf die religiöse Erziehung legen. TV ist verboten und Internet nur dann erlaubt, wenn es koscher ist, d.h. entsprechend gefiltert wurde. Auch Handys müssen koscher sein, das bedeutet u.a. keine SMS-Funktion, kein Radio, keine Kamera. Die Kinder wachsen so von Anfang an in eine Parallelgesellschaft hinein, abgeschottet leben sie in speziellen Stadtvierteln oder Vororten, ohne Berührungspunkte zu der Welt der säkularen Israelis, zu denen sich R. und S. zählen. Sie halten nicht viel von den Charedim, den „Gottesfürchtigen“, weil sie wenig bis nichts zum israelischen Gemeinwesen beitragen. Im Gegenteil, eigentlich würden sie dem Staat nur auf der Tasche liegen, so unsere Gastgeber. Charedische Männer widmen sich von morgens bis abends ausschließlich dem Studium der religiösen Schriften, einer Arbeit gehen sie normalerweise nicht nach, das überlassen sie ihren Frauen, die sich mangels qualifizierter Ausbildung häufig mit schlecht bezahlten Jobs zufrieden geben müssen. Das Leben der Charedim ist deshalb geprägt von Armut, überleben können sie nur mit sozialer Unterstützung des Staates. Vielen Israelis sind sie mittlerweile ein Dorn im Auge, sie betrachten sie als Schmarotzer, vom Staat privilegierte fromme Faulenzer, die ihr Leben damit verbringen, auf den Messias zu warten und sich auf Kosten der weltlichen Allgemeinheit, die sie ja eigentlich verachten, durchfüttern lassen. Auch vom Wehrdienst sind sie ausgenommen, diese und andere Privilegien erhielten sie schon zur Zeit der Staatsgründung 1948, aber damals machten sie nur ein Prozent der Bevölkerung aus, heute sind es 15 %, Tendenz steigend, denn Ultraorthodoxe setzen durchschnittlich 7,5 Kinder in die Welt, oft mehr, 10 bis 12 sind keine Seltenheit, so A. und R. Die hohe Geburtenrate sichert den Charedim nicht nur reichlich Kindergeld, sondern auch wachsenden Einfluss, da ihr Anteil an der israelischen Gesellschaft dadurch ständig zunimmt. A. findet das besorgniserregend, wären die Ultraorthodoxen in der Regierungsverantwortung, hätten die arabischen Nachbarn leichtes Spiel mit Israel… Junge Orthodoxe, die aus ihrer Gemeinschaft aussteigen wollen, tun sich schwer mit der freien Welt, von der sie immer ferngehalten wurden, denn in ihrer Gesellschaft war jeder Schritt vorgeschrieben, sie mussten nur die Regeln befolgen und nicht selber denken. Auch in Arad leben viele Ultraorthodoxe, der Ort wurde 1962 mitten in der Wüste aus dem Boden gestampft, billiger Wohnraum und niedrige Grundstückspreise zogen damals auch die oft einkommensschwachen Charedim an. Was erfahren wir noch an diesem interessanten Abend? Die Bevölkerung von Israel ist ein buntes Gemisch von Juden aus aller Welt, in letzter Zeit kamen wegen des zunehmenden Antisemitismus in Frankreich vor allem Einwanderer von dort. Grundsätzlich wird jeder Jude aus der Diaspora aufgenommen und erhält sofort die israelische Staatsbürgerschaft. Rassismus gibt es auch hier, er richtet sich vor allem gegen Juden aus Äthiopien…
A. und R. zeigen uns noch ihren Bunker, alle Privathäuser und öffentlichen Gebäude müssen per Gesetz von 1951 über einen solchen bombensicheren Schutzraum verfügen. Seit der Ausrufung des Staates Israel im Mai 1948, auf die die arabischen Nachbarn mit einer sofortigen Kriegserklärung reagierten, prägen Konflikte und bewaffnete Auseinandersetzungen die Geschichte des Landes, insofern macht ein schnell erreichbarer Bunker in jedem Haushalt schon Sinn. A. und R. haben ihren noch nie benutzen müssen, Bekannte von ihnen in der Nähe des Gaza-Streifens dagegen so häufig, dass sie ihre Kinder grundsätzlich in dem Schutzraum übernachten lassen. Auch R. und S. von den Golanhöhen hatten uns erzählt, dass Alarmsirenen sie schon häufiger in ihren bombensicheren Unterschlupf zwangen. Bei ihnen befand sich der Bunker im Keller, bei A. und R. dagegen ist er Bestandteil der Wohnung und wird von ihnen als Arbeitszimmer genutzt, für uns ist er nicht als Bunker erkennbar. Wohnraum sei knapp und teuer in Israel, so unsere Gastgeber, folglich sei man im Laufe der Zeit dazu übergegangen, die Schutzräume in die Wohnung zu integrieren und anderweitig zu nutzen, z.B. als Arbeitszimmer, Fitnessraum etc., ihrem eigentlichen Zweck tut das ja keinen Abbruch.
Weiter geht es zum Mo'av Aussichtspunkt am Stadtrand von Arad mit einem phantastischen Blick in die Negev-Wüste und zum Toten Meer. Außerdem steht dort ein Werk des israelischen Bildhauers Igael Tumarkin mit dem Titel „Panorama“. Tumarkin wurde in Dresden geboren und wanderte im Alter von zwei Jahren mit seiner Mutter nach Israel aus, ursprünglich trug er einen deutschen Namen. Er ist bekannt für seine großformatigen Außenarbeiten, die u.a. in Israel und den USA zu sehen sind, eins seiner Werke haben wir schon im Westjordanland bewundern können, auch in Nürnberg steht eins. Wir fahren noch ein Stück Richtung Masada und spazieren zu einem weiteren Aussichtspunkt mit Wüstenblick, in der Ferne kann man Beduinendörfer sehen. R. erzählt uns, dass die israelische Regierung bemüht ist, die ursprünglich als Halbnomaden lebenden Beduinen in eigens für sie gegründeten Städten sesshaft zu machen, seitdem nach der Staatsgründung Israels ein großer Teil ihres früheren Lebensraums in der Negev staatliches bzw. militärisches Gebiet wurde, aber die Ureinwohner der Negev-Wüste nehmen dieses Angebot nur begrenzt an. Sie fühlen sich dem freien Leben in der Natur verbunden und ziehen es vor, in illegal errichteten Dörfern zu leben, die von den Israelis immer wieder abgerissen werden. Ca. 200.000 israelische Beduinen gibt es in der Negev, ca. 40 % davon wohnen in offiziell nicht anerkannten Dörfern unter schwierigen Bedingungen und in ärmlichen Verhältnissen, da ihnen vom Staat keine Dienstleistungen zur Verfügung gestellt werden. Sie sind arabischsprachig und Anhänger des Islam, die Vielehe, eigentlich in Israel schon seit 1977 verboten, ist bei ihnen weit verbreitet. Wir sehen später in den Supermärkten manchmal Beduininnen, es sind schöne, stolze Frauen. Dann fährt R. mit uns noch zum Yatir Forest ein gutes Stück nördlich von Arad. Was für ein Gegensatz, als wir plötzlich, aus der kargen, trockenen Negev-Wüste kommend, am Rande eines großen Waldgebietes stehen, das sich unmittelbar an der Grenze zum Westjordanland erstreckt. Mit ca. 30 km² handelt es sich um den größten zusammenhängenden, künstlich angelegten Wald in Israel. Seit 1964 wurden hier mehrere Millionen Bäume gepflanzt, v.a. Nadelbäume wie Kiefern und Zypressen, aber auch Laubbäume, sogar Weinanbau gibt es hier. In der nördlichen Negev-Wüste liegen die jährlichen Niederschlagsmengen höher als im extrem trockenen Süden, nur deshalb ist die Existenz des Yahir Forest möglich. Die Anpflanzungen sollten die Ausbreitung der Wüste nach Norden hin stoppen, was auch gelang, gleichzeitig ist der Wald ein gemeinsames Forschungsprojekt der NASA und Israels. Wir staunen über diese grüne Oase mitten in der Wüste, die ein beliebtes Naherholungs- und Wandergebiet ist. Nach diesem sehr interessanten Vormittag sind wir gegen Mittag wieder zurück in Arad und verabschieden uns von unseren Gastgebern, die uns noch mit Orangen aus dem eigenen Garten, belegten Broten und Wasser versorgen, total nett. Wir kaufen in der Stadt noch ein paar Lebensmittel ein und entdecken dabei zu unserer Überraschung ein Schild mit der Aufschrift „Dinslaken 4422 km“. Die Stadt am Niederrhein ist der Geburtsort von Gerolds Mutter, tatsächlich finden wir später heraus, dass Arad und Dinslaken seit 1989 eine Städtepartnerschaft verbindet, verrückt! Dann fahren wir zum Westeingang des Masada National Park, wo es auch einen Campingplatz gibt, auf dem Wege dorthin phantastische Blicke auf die Negevwüste und das Tote Meer in der Ferne. Am Parkeingang warnt man uns, dass gerade zwei Schulklassen auf dem Campingplatz seien, der Herbst ist in Israel allgemein die Zeit der Klassenfahrten, wir bleiben trotzdem und finden einen sehr schönen Platz abseits vom Schülerrummel. Für den Besuch der Ausgrabungsstätte ist es schon zu spät, der Park schließt um 16 Uhr. Der Abend ist angenehm, die Temperatur lau wie an einem Sommertag in Deutschland.
Für die Israelis ist die Welterbestätte Masada vor allem als Erinnerungsort an den erbitterten jüdischen Widerstand gegen die Römer wichtig. Nach dem Tod von Herodes war Masada nämlich in römische Hände übergegangen, gelangte aber in der Anfangsphase des jüdischen Kriegs gegen Rom um 66 n. Chr. in die Gewalt von jüdischen Aufständischen, den sogenannten Zeloten, besonders fanatischen religiösen Eiferern. 70 n. Chr. fiel Jerusalem, dabei wurde auch der zweite jüdische Tempel auf dem Tempelberg von den Römern zerstört, als Relikt blieb nur die heutige Klagemauer übrig. Die Zeloten in der Festung Masada aber gaben nicht auf. Als die 10. Legion der römischen Armee 72 n. Chr. mit der Belagerung begann, hielten sich dort etwa 1000 jüdische Männer, Frauen und Kinder auf. Fast zwei Jahre lang behaupteten sie sich als letzte jüdische Bastion gegen die Römer. Das dramatische Finale begann, nachdem es den Angreifern mit großem Aufwand gelungen war, von der niedrigeren westlichen Seite her eine riesige Erdrampe zu bauen, sie ist heute der westliche Zugang zur Ausgrabungsstätte, und mit einem Belagerungsturm und einem Rammbock eine Bresche in die Festungsmauer zu schlagen. Die Situation der jüdischen Zeloten war nun aussichtslos, sahen sie sich doch mit der Übermacht von ca. 10.000 Mann konfrontiert, aber statt sich zu ergeben und damit in die Knechtschaft der Römer zu gelangen, zogen sie es vor, als freie Menschen zu sterben und begingen kollektiven Selbstmord - so wurde der Mythos um die legendäre Verteidigung Masadas geboren. Als Symbol für jüdischen Freiheits- und Durchhaltewillen, für Wehrhaftigkeit, Unbeugsamkeit und Patriotismus bestimmte er lange Zeit das israelische Selbstverständnis. Der junge Staat Israel, von Anfang an mit einer Überzahl von Feinden konfrontiert, die ihnen die Existenzberechtigung absprachen, sah sich in einer ähnlichen Situation wie die kämpferischen Zeloten von Masada. Bis zu Beginn der 1990er Jahre leisteten die Rekruten der israelischen Armee hier den Schwur: „Masada darf nie mehr fallen“. Mittlerweile bewertet man die Dinge allerdings etwas anders, denn schließlich endete der glorifizierte Kampf um Masada mit einer bitteren jüdischen Niederlage, und ein kollektiver Selbstmord taugt vielleicht auch nicht unbedingt als heldenhaftes Vorbild….. Wir finden die Ausgrabungen von Masada jedenfalls sehr spannend und die Blicke von hier oben sind in alle Richtungen einfach nur grandios! Als nächstes fahren wir zurück nach Arad und dann auf der Straße 31 in vielen Serpentinen abwärts zum Toten Meer, wir halten an diversen Stellen, die Ausblicke sind phantastisch. Wir wissen, dass es in Ein Bokek neben exklusiv für Hotelgäste reservierten Stränden auch einen kostenlosen öffentlichen Strandabschnitt gibt, dorthin fahren wir, denn wir wollen natürlich im Toten Meer baden. Ein Bokek ist der größte Badeort an der israelischen Seite des Salzsees – die Grenze zu Jordanien verläuft ja mitten durch das Tote Meer - , hat aber außer seiner besonderen Lage (ca. 400 m unter dem Meeresspiegel) nichts zu bieten. Ein hässliches Hotel reiht sich hier an das nächste, von lauter Musik beschallt, aber der Strand ist schön und das Wasser unwirklich blau. Wir gehen abwechselnd hinein, ich konnte es nicht wirklich glauben, aber bei einem Salzgehalt von über 30 %, das ist zehnmal salziger als das Mittelmeer, kann man tatsächlich in dem Wasser nicht untergehen, egal, ob man sich lang ausstreckt oder die Beine anzieht. Schwimmversuche sollte man tunlichst unterlassen, um kein Salzwasser in die Augen zu bekommen oder gar zu schlucken. Also lassen wir uns einfach auf dem Rücken liegend treiben und genießen dieses außergewöhnliche Badeerlebnis ausgiebig. Der Auftrieb ist so stark, dass man Schwierigkeiten hat, aus der Rückenlage wieder auf die Beine zu kommen….
Am idyllischen Strand von Ein Bokek merkt man nichts von den gravierenden Problemen, mit denen das Tote Meer zu kämpfen hat, das seit 1979 durch eine Halbinsel zweigeteilt ist: Im nördlichen See fällt der Wasserstand und das Ufer zieht sich immer weiter zurück, im seichten südlichen See dagegen steigt das Wasser, er droht überzulaufen und Hotels zu überfluten. Ein Bokek liegt am südlichen Teil, der überwiegend aus Verdunstungsbecken besteht, künstlich angelegten Pools, die mehrere Unternehmen zum industriellen Abbau von Mineralien nutzen. Für die Pools leiten sie in großem Umfang Wasser aus dem tieferen und größeren nördlichen Teil in die südlichen Becken, was dort zu einem hohen Wasserstand führt. Hauptursache für das Ansteigen des südlichen Toten Meers ist allerdings, dass sich in den Verdunstungsbecken über die Jahre Unmengen von Salzschichten abgelagert haben, die Industrieunternehmen sind nämlich nur an den wertvollen Mineralien interessiert, das Salz wird zurückgelassen. Um eine Überflutung des südlichen Sees zu verhindern, wurden sie mittlerweile immerhin verpflichtet, die Verdunstungsbecken durch Ausbaggern des abgelagerten Salzes zu vertiefen.
Im nördlichen See dagegen gestalten sich die Probleme schwieriger. Hier sinkt der Wasserspiegel seit Jahrzehnten kontinuierlich, einerseits wegen der Wasserentnahme für die künstlichen Pools im Süden, andererseits aber auch und vor allem weil der Jordan, der wichtigste Frischwasserlieferant des Toten Meers, unterwegs so viel Wasser verliert, dass er am Ende als kleines Rinnsal in den Salzsee mündet. Insbesondere Israel und Jordanien zapfen dem Jordan Unmengen für die Trinkwasserversorgung ihrer Länder und die Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen ab. Das hat dramatische Konsequenzen nicht nur für den Wasserstand des nördlichen Sees, sondern auch für das gesamte Ökosystem, die Bildung von äußerst gefährlichen Senklöchern ist dabei nur eines von vielen Problemen. Das Ufer zieht sich immer weiter zurück, wo früher das Meer war, entsteht Brachland, teilweise bis zu 2 km breit. Salzkammern unter der ausgetrockneten Erdoberfläche, die vormals mit Wasser bedeckt war, werden von Süßwasser in Form von Regen oder Grundwasser ausgespült, es bilden sich Hohlräume, die irgendwann unvermittelt einbrechen und in der Vergangenheit schon ganze Häuser und Straßen verschluckt haben. In der Nähe von Ein Gedi, einem Kibbuz am nördlichen Toten Meer, verschwanden z.B. ein Campingplatz und eine Uferstraße, auch ein Restaurant und eine Tankstelle versanken in den bis zu 30 m tiefen Kratern. Der Kibbuz lag früher in unmittelbarer Nähe vom Toten Meer, heute ist das Ufer weit entfernt. Da niemand weiß, wann und wo sich der nächste Krater öffnet, sind die Uferbereiche am nördlichen Toten Meer aus Sicherheitsgründen weiträumig abgesperrt, große Schilder, die wir bei der Hinfahrt vor zwei Tagen zahlreich gesehen haben, warnen vor den Senklöchern, von denen es mittlerweile allein auf der israelischen Seite über 6000 in unterschiedlicher Tiefe und Breite gibt. Es gibt kostspielige Pläne, um den Tod des Toten Meers zu verhindern, umgesetzt wurde bisher wenig und in Ein Bokek ist die Welt zumindest vordergründig noch in Ordnung, hier fällt das langsame Austrocknen des Toten Meers nicht auf und man kann von den Hotels aus direkt ins salzige Wasser waten…
Am Nachmittag fahren wir wieder zurück zum Campingplatz und eilen im Laufschritt die Römerrampe zur Ausgrabungsstätte Masada hoch, um den Sonnenuntergang über dem Toten Meer zu erleben. Das haben sich wohl auch viele andere gedacht, denn auf dem Gipfelplateau ist die Hölle los. Der Sonnenuntergang ist schön, aber der Zauber des Ortes, wie wir ihn heute Morgen erlebt haben, geht in dem Massenandrang unter. Unten auf dem Campingplatz sind die beiden Schulklassen noch da, aber so weit von uns entfernt, dass sie uns nicht stören. Ansonsten bleiben wir wie gestern Abend erstaunlicherweise die einzigen Gäste auf diesem wunderschönen Platz, die meisten Touristen übernachten wohl am Toten Meer. Bei der Zubereitung des Abendessens geht wegen eines Defekts die Kartusche für den Gaskocher in Flammen auf, Gerold improvisiert mit unserem Hobo, der aber für einen schnellen Morgenkaffee eher unpraktisch ist, weil er mit Kleinholz betrieben wird.

Am nächsten Morgen gehen wir schon um 5 Uhr zur Masada-Festung hoch und erleben mit nur wenigen anderen Besuchern, wie die Sonne als roter Ball über dem Toten Meer aufsteigt, viel schöner als gestern, da waren wir ein bisschen zu spät oben angekommen. Dann packen wir unsere Sachen für die Abreise zusammen. Wir haben lange überlegt, ob wir noch einen Tag bleiben sollen, genug zu tun gäbe es noch, z.B. schöne Wanderungen im Bereich von Masada und Arad oder durch die Wadis beim Kibbuz Ein Gedi, aber letzten Endes entscheiden wir uns doch für die Weiterreise, im Süden gibt es auch noch viel zu sehen. Später bereuen wir, dass wir uns für diese Region und das Tote Meer so wenig Zeit genommen haben, aber wir können bei unserem ersten Israel-Besuch halt nicht alles sehen und machen. Unser erster Stopp auf dem Weg in den Süden ist Dimona, wie Arad 1955 mitten in der Negev-Wüste aus dem Boden gestampft, als sogenannte Entwicklungsstadt, eine Bezeichnung für Orte, die in der Frühzeit des israelischen Staats eigens für die Ansiedlung von Neueinwanderern gegründet wurden, um die Bevölkerung gleichmäßiger über das Land zu verteilen. Dimona hat heute ca. 35.000 Einwohner und ist vor allem bekannt als Atomstadt, denn in der Nähe befindet sich das Negev Nuclear Research Center mit Israels einzigem Atomreaktor, lange als Textilfabrik getarnt. 2014 wurden vom Gazastreifen Raketen auf die Anlage abgefeuert, die ihr Ziel aber verfehlten. Dimona hat als Stadt nichts Besonderes zu bieten, wir stoppen nur, um in einer großen Mall nach einer neuen Gaskartusche für unseren Kocher zu suchen, werden aber nicht fündig. In einem anderen Einkaufszentrum von Dimona wurde 2008 ein Selbstmordanschlag verübt, mit vier Toten und zahlreichen Verletzten, das ging damals durch die Weltpresse.
Unser nächstes Ziel ist Sde Boker, der Kibbuz war der Altersruhesitz des israelischen Staatsgründers und ersten Ministerpräsidenten Israels David Ben-Gurion, 1973 bei Tel Aviv verstorben und in der Nähe von Sde Boker beerdigt. Wir schauen uns sein früheres Wohnhaus an, jetzt ein Museum, es ist klein und sehr bescheiden eingerichtet. Auch Konrad Adenauer weilte 1966, bereits 90jährig, im Rahmen einer neuntägigen Israel-Reise für einen privaten Besuch bei Ben-Gurion schon hier, es war ihr letztes Zusammentreffen. Der erste deutsche Bundeskanzler (1949 – 1963) war damals nicht mehr im Amt, ein Jahr später starb er, Ben-Gurion reiste ins Rheinland, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Den Israeli und den Deutschen verband eine ungewöhnliche Freundschaft, die grundlegend für die Entspannung im schwierigen deutsch-jüdischen Verhältnis war und nach der Shoa geradezu unvorstellbar erschien. Persönlich trafen sich die Politiker nur zweimal, die Bilder von ihrer historischen ersten Begegnung 1960 im Hotel Waldorf Astoria in New York gingen um die Welt, sie zeigen die beiden sehr vertraut, auf einem Foto legt Ben-Gurion Adenauer in einer fast zärtlichen Geste die Hand auf den Arm. Die beiden Staatsmänner dachten pragmatisch und ließen sich von realpolitischen Zielsetzungen leiten, das ist die eine Seite, aber Ben-Gurion und Adenauer mochten sich auch, die „Chemie“ stimmte bei ihnen auf Anhieb und für Adenauer, selbst von den Nazis verfolgt, war die Aussöhnung mit dem jüdischen Volk ein moralisches Anliegen von höchster Priorität.
Ben-Gurion wählte den Wüstenkibbuz Sde Boker nicht zufällig als Altersruhesitz. Seit der israelischen Staatsgründung hatte er sich für die Entwicklung der Negev eingesetzt, gemäß seiner Vision, „die Wüste zum Blühen“ zu bringen, sie landwirtschaftlich und angesichts der hohen Einwanderungszahlen auch als Siedlungsraum nutzbar zu machen. Die Negev macht 60 % der Fläche des Staates aus, allerdings leben dort auch heute nur ca. 10 % der Bevölkerung, die Besiedlung und Urbarmachung der Wüste blieb also weitgehend ein Traum.
Gegenüber dem Kibbuz gibt es einen Park mit Picknicktischen und einem Zeltsymbol, das behalten wir schon mal als Übernachtungsmöglichkeit im Auge. Aber zunächst fahren wir weiter zum En Avdat National Park ein Stück weiter südlich. Der Park besteht aus zwei verschiedenen Sektionen und hat deshalb zwei Eingänge, wir nehmen den nördlichen und fahren über eine kurze, steile Serpentinenstrecke sofort hinunter zum Wadi Tsin, wo es auch einen Campingplatz gibt, kostenlos. Als wir unten ankommen, wissen wir auch warum, es gibt nichts außer zwei mobilen Toiletten, das Zelt müssten wir auf dem staubigen, steinigen Parkplatz aufstellen, das wirkt nicht sehr einladend, hier will nicht einmal Gerold bleiben. Also beeilen wir uns, wenigstens noch eine kurze Wanderung durch das Wadi Tsin zu machen. Wie immer sitzt uns die Zeit im Nacken, um 16 Uhr schließen oben die Parktore, bis dahin müssen wir draußen sein. Wir lernen Volker kennen, einen Rentner aus Norddeutschland, der alleine unterwegs ist, und verabreden, heute Abend zusammen im Park gegenüber von Sde Boker zu zelten. Eine gute Stunde wandern wir im Wadi Tsin, durch die faszinierend schöne Landschaft der Negev-Wüste. Oben am Parkeingang schauen wir uns noch die Gräber von Ben Gurion und seiner Frau Paula an, die als aufwendiges Denkmal gestaltet sind und auf einer Klippe hoch über dem Wadi Tsin liegen, mit spektakulären Blicken auf den Weg, den wir gerade gegangen sind. Im Steilhang unterhalb der Klippe haben sich nubische Steinböcke mit prächtigen Hörnern niedergelassen, typische Bewohner der Negev-Wüste, und scheinen die Aussicht genauso zu genießen wie wir. Dann fahren wir zurück zum Park am Kibbuz Sde Boker und bauen unser Zelt auf, Volker ist schon da, in seiner Gesellschaft fühlen wir uns doch etwas wohler, aber den ganzen langen Abend kommt niemand vorbei und stört sich an uns.

Der Abend wird laut, aber wir sind weit genug entfernt von den Schülerhorden und verbringen einen sehr angenehmen Abend. Schlechter ergeht es da Volker, der auch hier zeltet, und bis spät in die Nacht von grölenden Schülern am Schlafen gehindert wurde.
Nach ca. 20 km biegen wir von der Landstraße 12 Richtung Red Canyon ab. Uns bleibt nur noch Zeit für eine kurze Wanderung von knapp zwei Stunden, aber auch die ist sensationell. Wir steigen zunächst in das breite Wadi Shani ab, das sich dann bald zu einem richtigen Slot Canyon, einer Klamm, verengt, von der Art, wie wir sie vom Colorado-Plateau in den USA kennen. Mit einigen Kletterpartien, die mit Leitern, Haltegriffen und Tritten gesichert und nicht besonders schwierig sind, geht es dann in steilen Stufen abwärts, bis sich der Canyon wieder weitet. Die eigentliche Klamm ist sehr kurz, nur ca. 200 m lang, und auch nicht besonders tief, da gibt es im Südwesten der USA sehr viel spektakulärere Exemplare, trotzdem lohnt sich der Red Canyon, schon alleine wegen des roten Gesteins, dem er seinen Namen verdankt, und der grandiosen Wüstenlandschaft. Weil uns nicht so viel Zeit bleibt, gehen oder besser klettern wir denselben Weg zurück zum Parkplatz und müssen uns dann schon beeilen, vor Einbruch der Dunkelheit zurück in Eilat zu sein. Inzwischen hat der Sabbat begonnen und es ist deutlich ruhiger auf den Straßen, bis auf wenige kleinere Läden hat alles geschlossen. Wir kommen im Dunkeln auf dem Campingplatz des Hai Bar Yotvata Nature Reserve an, wo wir zunächst die einzigen bleiben, das ist natürlich wunderbar. Später am Abend kommt noch eine große Gruppe russischsprachiger Israelis an, Erwachsene mit Kindern, die aber früh ruhig sind. Für November ist es ein unfassbar warmer Abend, wir sitzen noch lange in sommerlicher Bekleidung draußen.

Dieser freche Strauß näherte sich unserem Auto und bearbeitete mit seinem Schnabel dreist unsere Windschutzscheibe
Heute steht der Timna Park auf unserem Programm. Er liegt ganz in der Nähe vom Hai Bar Yotvata Nature Reserve und ist offenbar Israels Vorzeige-Nationalpark, darauf deutet jedenfalls das aufwendige, moderne Besucherzentrum hin, mit Filmvorführungen in einem separaten Gebäude, Fahrradverleih, Snackbar und Rangern, bei denen man sich über Wandermöglichkeiten beraten lassen kann. Das haben wir in der Form in Israel noch nicht gesehen. Der Timna ist ca. 60 km² groß und liegt in der Arava-Senke, die sich vom Toten bis zum Roten Meer erstreckt und die Fortsetzung des Jordangrabens bildet, der vom Jordan durchflossen wird. Man kann sich diese Senke vorstellen wie ein großes, breites Tal, an den Rändern ansteigend zu den hohen jordanischen Bergen im Osten einerseits und den niedrigeren Bergen der israelischen Negev im Westen andererseits, die in schroffen Klippen zur Senke hin abfallen. Die höchste Erhebung im Park ist der 450 m hohe Mount Timna, den man auf einem ausgeschilderten Wanderweg besteigen kann, aber das ist eine anspruchsvolle Tour. Wir belassen es heute bei einer Autorundfahrt durch den weitläufigen Park, das ist die beste Möglichkeit, sich einen Überblick zu verschaffen und die wichtigsten Naturspektakel und archäologischen Stätten anzuschauen. Denn der Timna bietet nicht nur eine faszinierende Wüstenlandschaft, hier kann man auch Felszeichnungen aus dem 14. bis 12. Jahrhundert v. Chr. bewundern und den Spuren bergbaulicher Aktivitäten folgen, die weit in die Zeit v. Chr. zurückreichen. Unglaublich, aber die Ägypter bauten bereits vor über 6000 Jahren im Bereich des Parks Kupfer ab, hier finden sich Reste der ältesten Kupfermine der Welt und auch von antiken Schmelzanlagen.
Wir stoppen bei unserer Rundfahrt an besonders spektakulären, durch Erosion entstandenen Felsformationen, die ihre Namen dem Aussehen verdanken: den spiralförmigen „Spiral Hill“, den pilzförmigen „Mushroom“, solche „Pilze“ sind im gesamten Nationalpark verbreitet, sie bildeten sich durch unterschiedlich starke Erosion. Die Felszeichnungen im nördlichen Teil des Parks zeigen menschliche Aktivitäten und die Tierwelt der Antike, die Darstellung ägyptischer Kampfwagen verweist auf die Anwesenheit der Ägypter im Timna. Besonders spektakulär sind die sogenannten „Arches“, durch Erosion entstandene Sandsteinbögen, zu denen man hochklettern kann, aber es herrscht so großer Andrang, dass wir die Besichtigung auf morgen verschieben. Dann fahren wir noch zum Service-Bereich am künstlich angelegten Timna-See. Dort gibt es nicht nur einen großen Campingplatz und Zimmer zum Mieten, sondern auch ein Restaurant, eine Snackbar und einen Souvenirladen mit viel Kitsch. Für den See kann man sich Tretboote leihen, ein bisschen Disneyland mitten in der Wüste. Der Campingplatz ist praktisch leer, wir hatten mit viel mehr Andrang gerechnet und beschließen, morgen hierher umzuziehen. Weiter geht es nach Eilat, wo es wegen des Sabbat insgesamt immer noch relativ ruhig zugeht. Im Bereich der Hotels und der Strandpromenade am Roten Meer sieht es allerdings ganz anders aus, hier haben die Cafés, Restaurants und Clubs geöffnet und sind sehr gut besucht, am Strand tummeln sich spärlich bekleidete Sonnenanbeter, in einer Mall sind zwar einige Geschäfte geschlossen, aber auch viele geöffnet. Offenbar nimmt man es zumindest im Strandbereich mit dem Sabbat nicht so genau oder es hat damit zu tun, dass in Eilat zur Unterstützung des Tourismus eine Freihandelszone eingerichtet wurde, hier kann man zollfrei und damit wesentlich günstiger shoppen als anderswo in Israel. Die unmittelbare Lage am Roten Meer macht Eilat zwar zu etwas Besonderem, aber ansonsten können wir dem Ort nichts abgewinnen. Hier ist alles auf Konsum, Kommerz und Entertainment ausgerichtet, die Hotelanlagen sind riesig und hässlich, aber um Schönheit geht es nicht, nur um maximalen Profit. Es ist der ideale Platz zum Abhängen, Chillen, Sonnenbaden und Konsumieren, wenn man daran Spaß hat, aber man kann Eilat natürlich auch als Ausgangspunkt zum Erkunden der Negev-Wüste benutzen, viele kommen zudem wegen der Wassersportmöglichkeiten und zum Tauchen und Schnorcheln im Roten Meer. Wir flanieren einmal entlang Eilats Konsum- und Vergnügungsmeile, man muss das schon gesehen haben, und fahren dann zurück zum Hai Bar Yotvata Nature Reserve, wo wir wieder die einzigen Gäste sind.
Gegen 22 Uhr verschaffte sich gestern Abend, kurz bevor die Aufsicht das Gelände verließ, lautstark noch eine vielköpfige Familie Zutritt zu dem eingezäunten Campingplatz, für den man einen Schlüssel benötigt, aber sie verhielten sich rücksichtsvoll und waren schnell ruhig. Heute
Morgen sehen wir, dass es orthodoxe Juden sind. Während die Mutter sich mit sechs Kindern abmüht, umrundet der Vater mit einem Büchlein betend ein ums andere Mal den kleinen Platz. Die Frau trägt ein als Turban gebundenes Kopftuch (jiddisch „Tichel“, Verkleinerungsform von deutsch „Tuch“), was signalisiert, dass sie verheiratet ist. In Jerusalem haben wir solche „Turbane“ sehr oft gesehen, bunt und kunstvoll geschlungen wirken sie durchaus wie ein modisches Accessoire, man kann sich ja auch attraktiv verhüllen. Orthodoxe Jüdinnen dürfen nach der Heirat ihre Haare nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen, das ist ein Toragesetz. Haare gelten als etwas Sinnliches und könnten begehrliche Männerblicke auf sich ziehen, ihr Anblick sollte deshalb nur dem Ehepartner vorbehalten bleiben. Die Frauen müssen sich also sittsam bedecken, weil die Männer sich nicht im Zaum halten können – diese Art von Rechtfertigung für die Verhüllung von Frauen kommt mir irgendwie bekannt vor, wobei orthodoxe Jüdinnen ihre Haare erst nach der Heirat verstecken, im Islam dagegen oft schon kleine Mädchen mit einem Schleier traktiert werden. Religiöse Kopfbedeckungen sind also kein rein muslimisches Phänomen und auch im Christentum gibt es ja eine religiös motivierte Verhüllungstradition. Orthodoxe jüdische Frauen dürfen alternativ zum „Tichel“auch eine Perücke tragen, jiddisch „Scheitel“ genannt, was in streng religiösen Kreisen wegen der Ähnlichkeit mit natürlichem Haar aber nicht so gerne gesehen wird, oder sich eine Mütze aufsetzen oder ein Haarnetz überziehen. Die ultraorthodoxe Variante sind kahlgeschorene Haare unter einem Tichel oder Scheitel…
Unsere Nachbarin auf dem Campingplatz jedenfalls trägt einen eher unauffälligen Turban und grüßt freundlich, aber zurückhaltend, die Kinder schauen neugierig, die Buben haben schon Schläfenlocken, ins Gespräch kommen wir leider nicht. Wir bauen das Zelt ab, heute wollen wir nämlich im Timna Park übernachten. Gestern Abend fielen ein paar Regentropfen und es wurde vorübergehend etwas frischer, aber schon im Laufe des Vormittags steigt die Temperatur wieder, 31 Grad sind für heute, den 10. November 2019 gemeldet! Im Timna Park schauen wir uns zunächst die „Arches“ an, einen großen und einen kleinen Sandsteinbogen, Wunderwerke der Erosion. Gestern am Sabbat war hier die Hölle los, heute sind wir fast die einzigen Besucher, die die beeindruckenden Arches erklimmen. In der Nähe des Servicebereichs lassen wir dann an den „Solomon Pillars“, markanten Felssäulen, deren Entstehung ebenfalls auf Erosion zurückzuführen ist, das Auto stehen und brechen zu einer ca. vierstündigen Wanderung durch die atemberaubende Wüstenlandschaft des Timna Parks bzw. der Negev-Wüste auf. Es ist ein Rundweg, sehr abwechslungsreich, einfach nur wunderbar. Der Timna ist nicht nur bekannt für seine außergewöhnlichen Felsformationen, sondern auch für seine bunten Farben, davon bekommen wir heute einen sehr guten Eindruck. Wir folgen zunächst einem breiten Wadi, das sich schließlich zu einem ansteigenden Slot Canyon verengt, wo wir richtig klettern müssen, dann steigen wir ab in das nächste Wadi, das am Ende auch wieder sehr schmal wird, Kletterpartien haben wir hier aber nicht zu bewältigen. Niemand begegnet uns, nur die letzten drei Kilometer laufen wir im Strom anderer Besucher, am großen „Mushroom“ vorbei, einer weiteren natürlich geformten Felsskulptur, die einem überdimensionalen Pilz ähnelt. Abends auf dem Campingplatz treffen wir zufällig Volker wieder, er fliegt nach nur einer Woche Israel morgen schon wieder zurück nach Deutschland. Wir plaudern über das Land, das uns allen Dreien so gut gefällt. Volker war vor langer Zeit schon einmal hier und erzählt uns, dass sich sehr viel verändert habe. Bei seinem ersten Besuch z.B. seien die Straßen speziell in der Negev bei weitem nicht so gut ausgebaut gewesen. Einig sind wir uns darin, dass der Kulturschock ausbleibt, wenn man zum ersten Mal nach Israel kommt. Die israelische Mentalität mag anders sein als die deutsche, aber man fühlt sich hier sofort heimisch, weil Lebensstil und -art westlich geprägt sind.
Gestern Abend kam noch heftiger Wind auf, der den Topf vom Kocher wehte und unser Zelt heftig zum Flattern brachte, am Morgen ist alles wieder ruhig. Wir bauen das Zelt ab, denn am Abend sind wir im Kibbuz Ketura zu Gast. Als erstes steht heute wieder eine Wanderung auf unserem Programm, und zwar der Shehoret Canyon, der außerhalb des Timna Parks auf dem Weg nach Eilat liegt und nur über eine holprige Piste zu erreichen ist. Kurz vor dem Eingang zum Canyon ist eine Fläche als Übernachtungscamp ausgewiesen, ohne irgendwelche sanitäre Einrichtungen, das scheint wohl in Israel nicht unüblich zu sein. Der Canyon selber, der wegen seines rot-schwarzen Gesteins auch Black Canyon genannt wird, ist sensationell, meterhohe dunkle Felswände begrenzen zu beiden Seiten das enge, trockene Flussbett, ein paar harmlose Klettereinlagen haben wir zu bewältigen, dann steigen wir aus der Schlucht heraus und laufen eine Weile über die Höhen, mit spektakulären Blicken auf die Arava-Senke und die Berge in Jordanien, das Gestein präsentiert sich vielfarbig in Weiß-, Gelb-, Rottönen, unglaublich schön und keine Menschenseele begegnet uns. Dann steigen wir wieder ab und erreichen bald das Shehoret Übenachtungslager, wo unser Auto steht, gut zwei Stunden waren wir unterwegs. Mittlerweile ist es sehr heiß geworden, allerdings lässt sich die trockene Hitze bis zu einer bestimmten Temperatur ganz gut aushalten. Am Abend erfahren wir von unseren Gastgebern, dass die breiten Wadis vor zwei Wochen nach starken Regenfällen kurzzeitig viel Wasser führten, wir können das gar nicht glauben, aber wir bekommen Fotos davon gezeigt.
Am späten Nachmittag fahren wir auf der 90 Richtung Norden zum Kibbuz Ketura, der ca. 50 km von Eilat entfernt liegt. Der Kibbuz ist umzäunt, das Eingangstor ganztägig geschlossen, wir müssen unsere Gastgeber anrufen, die uns ferngesteuert öffnen. F. und I. empfangen uns mit einer unkomplizierten, herzlichen Gastfreundschaft und sind uns auf Anhieb sympathisch. Sie stammen ursprünglich aus Kolumbien, haben zwei erwachsene Söhne und leben schon seit geraumer Zeit in Ketura, allerdings mit längeren Unterbrechungen, so haben sie einige Zeit in Chile verbracht und F. ist erst vor kurzem von einem anderthalbjährigen beruflichen Aufenthalt im Kongo zurückgekehrt. Darüber hinaus gehen die beiden auch viel auf Reisen. Ketura aber ist ihr Anker, man merkt, wie wichtig das Kibbuz-Leben für sie ist und dass sie stolz sind, Teil dieser Gemeinschaft zu sein, die im Gegensatz zu dem Kibbuz, den wir auf den Golanhöhen kennengelernt haben, noch eher nach der sozialistisch inspirierten Grundidee der Kibbuzim ausgerichtet ist. Gemeinschaft steht hier vor Privatheit, jeder wirft seinen Lohn in einen gemeinsamen Topf und behält lediglich einen kleinen Teil für sich. Nur wer auswärts arbeitet, besitzt ein eigenes Auto, die anderen benutzen eines der Kibbuz-Autos, für die man sich rechtzeitig in eine Liste eintragen muss. Jeder kennt hier jeden und kann den Kibbuz verlassen, wann immer er möchte, Konflikte seien aber eher selten, so F., nur ein einziges Mal habe es Probleme mit einem Bewohner gegeben. So viel Harmonie finde ich bewundernswert, immerhin leben hier fast 500 Personen auf relativ kleinem Raum zusammen, was normalerweise jede Menge Konfliktpotential böte. Für mich wäre ein Kibbuz definitiv keine Option, aber es ist interessant, diese Art des Miteinanders kennenzulernen. Man ist hier nie allein, die Gemeinschaft kümmert sich um jeden, der aus welchen Gründen auch immer Hilfe braucht, alles, was den Kibbuz betrifft, wird gemeinsam entschieden. Zum Abendessen gehen wir mit F. und I. in den großzügigen Gemeinschaftsraum, wo sich wohl ein großer Teil des Kibbuzlebens abspielt. Unsere Gastgeber nehmen alle Mahlzeiten hier ein, die in einer Großküche zubereitet werden. Es gibt eine Art Buffet, wo sich jeder sein Essen zusammenstellen kann, ziemlich praktisch, so bleibt die eigene Küche sauber und man hat auch noch Geselligkeit. Wir unterhalten uns über dies und das, F. und I. interessieren sich besonders für unseren Besuch in Ramallah und wie der Grenzübertritt ins Westjordanland verlief, das ist eine Welt, die ihnen als Israelis verschlossen bleibt.
Unsere Gastgeber verlassen wie gestern früh das Haus, wir treffen uns später zum Frühstück mit F. im Gemeindehaus. Er erzählt uns, dass vom Gazastreifen her seit zwei Tagen Raketen auf Israel abgefeuert werden, fast 200 bisher insgesamt, die meisten wurden durch das israelische Luftverteidigungssystem abgefangen, Schulen und Büros im Süden vorsorglich geschlossen, selbst in Tel Aviv heulten mehrfach die Sirenen. Angesichts dieser neuerlichen Eskalation, Folge der gezielten Tötung eines Anführers der militanten Palästinenserorganisation Islamischer Dschihad durch die Israelis, hatte es im Nachhinein vielleicht doch sein Gutes, dass es mit unserem Kibbuz-Besuch in der Nähe des Gaza nicht geklappt hat. Dauerhafte friedliche Zeiten für Israel würden F. und I. sehr begrüßen, wissen aber auch nicht so recht, wie das zu erreichen wäre.
Nach dem Frühstück fährt F. mit uns noch zur Dattelpalmenplantage außerhalb des Kibbuz. Hier werden Medjool-Datteln angebaut, die Königin der Datteln. F. hat uns gestern eine Packung davon geschenkt, sie sind aromatisch und saftig und schmecken wirklich köstlich. F. erklärt uns, was man beim Anbau beachten muss. Ab einer Höhe von ca. 25 m werden die Palmen gefällt, weil sie sonst umfallen und andere beschädigen könnten. Jeder Baum braucht pro Tag einen Kubikmeter Wasser! Das ist ganz schön viel angesichts der Wasserknappheit in der Negev. Die Datteln reifen am Baum und fallen dann einfach runter. Damit sie dabei nicht beschädigt werden, bringt man vor der Reife Säcke an, in die die reifen Datteln purzeln. Die meiste Arbeit auf der Plantage wird von Thailändern verrichtet, die einmalig eine Aufenthaltsgenehmigung für vier Jahre bekommen können. Es gibt auch eine Versuchsplantage, wo mit neuen Pflanzen und Bäumen experimentiert wird, ganz schön rührig ist der Kibbuz Ketura.
Nach diesem interessanten und informativen Start in den Tag verabschieden wir uns noch von I., die im Kindergarten mit den Kleinsten des Kibbuz beschäftigt ist, und fahren nach Eilat, wo wir um 12 Uhr unseren Wagen abgeben. Gegen 14 Uhr können wir in Eilat schon bei unserem Airbnb-Gastgeber einchecken, in einem kleinen, blitzsauberen Apartment in den Hängen oberhalb des Roten Meers, die beste Unterkunft unserer Reise, zweckmäßig eingerichtet, sehr hell, mit einem kleinen Hof, in dem man abends angenehm und ruhig sitzen kann, wunderbar. Unser Gastgeber ist supernett, er reist heute nach Tel Aviv und hätte uns sonst am Samstag auch zur jordanischen Grenze gebracht. Er versorgt uns noch mit Restaurant-Tipps und Schnorchel-Ausrüstung, dann sind wir schon alleine. Einkaufsmöglichkeiten befinden sich direkt um die Ecke, ein kleiner Supermarkt, eine Bäckerei, diese Unterkunft ist wirklich empfehlenswert. Wir pausieren nur kurz und laufen dann zu Fuß zum Roten Meer, spazieren eine Weile am Ufer entlang. Die jordanische Grenze ist nur einen Katzensprung entfernt. Gegenüber von Eilat kann man Aqaba erkennen, das jordanische Pendant von Eilat und namensgebend für den Golf von Aqaba, die langgestreckte Bucht, in der das Rote Meer an seinem Nordende ausläuft, dorthin werden wir am Samstag reisen. Es ist ohne Zweifel schön hier am Roten Meer, auch wenn Eilat als Stadt nicht viel zu bieten hat. Tatsächlich geraten wir bei der Suche nach einem Restaurant für das Abendessen in einen schöneren Stadtteil, mit kleinen Shops, Cafés, Imbissen. Zurück fahren wir mit dem Bus und verbringen einen angenehmen, lauen Abend in unserer Unterkunft.
Besondere Pläne haben wir für unseren letzten Tag in Israel nicht. Ohne Auto sind wir nicht mehr so mobil, eine Wanderung können wir uns nicht vornehmen. Wieder gehen wir zu Fuß zum Meer hinunter, das sind ca. 1,5 km, und nehmen dann einen Bus zur ägyptischen Grenze. Am Grenzübergang Taba steigt gerade eine asiatische Reisegruppe aus dem Bus. Viele Touristen nutzen ihren Aufenthalt in Süd-Israel für einen Ausflug nach Ägypten, aber das hätten wir langfristig vorbereiten müssen. Wir spazieren von der Grenze zurück nach Eilat, der Strand ist in diesem Bereich nicht sehr schön, steinig und teilweise auch schmutzig. Gerold schnorchelt eine Weile, ich genieße noch einmal die Sonne, nächste Woche werden wir in den deutschen Winter zurückkehren. Zurück in Eilat spazieren wir heute bis nahe an die jordanische Grenze. Auch wenn uns die Shops und hochpreisigen Restaurants nicht interessieren – die Strandpromenade ist hier wirklich sehr hübsch und lädt geradezu zum Flanieren ein. Zum Ende der Promenade hin gibt es riesige Hotelanlagen, die uns von der Art her an Las Vegas erinnern, dahinter breitet sich ein großer, desolater Campingplatz aus, wo offenbar hauptsächlich Dauercamper wohnen oder besser hausen, merkwürdiger Gegensatz zu den protzigen Hotelbauten. An der Promenade gibt es auch einen öffentlichen Strandbereich, wir gehen beide schwimmen im überraschend kühlen Wasser. Am späten Nachmittag laufen wir zu Fuß zurück zu unserer Unterkunft, Busse fahren jetzt nicht mehr, unser letzter Sabbat hat begonnen. Für den Rest des Tages genießen wir unser wunderbares Apartment und bereiten unsere Abreise nach Jordanien vor.
Und die Bilanz unseres Israel-Aufenthalts? Liebe auf den ersten Blick und nur Superlative - eine der besten, eindrucksvollsten, interessantesten, spannendsten, lehrreichsten Reisen, die wir je gemacht haben, nicht zuletzt auch wegen der Begegnungen und den Gesprächen mit unseren israelischen Freunden auf den Golanhöhen, in Arad und im Kibbuz Ketura.
Aqaba und Petra (Jordanien): Samstag, 16.11.2019 bis Dienstag, 19.11.2019
Gegen 10 Uhr sind wir abreisefertig und rufen über unsere „Gett“-App ein Taxi, trotz Sabbat fahren aber zu unserem Erstaunen auch vereinzelt Busse. Ansonsten ist es sehr ruhig heute, Sabbat eben. Der Taxifahrer setzt uns direkt am ca. 5 km entfernten Grenzübergang Yitzhak Rabin-Wadi Araba ab. Wir hatten noch in Deutschland versucht, ein Visum für Jordanien zu bekommen, was aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr möglich war, und sind etwas nervös, wie alles klappen wird, aber es läuft reibungslos, sowohl die Ausreise aus Israel, bei der wir noch eine Gebühr entrichten müssen, als auch die Einreise nach Jordanien, keine langen Wartezeiten, keine Probleme, wie wir allenthalben gehört hatten. Die jordanischen Beamten sind überaus freundlich, zu unserer Überraschung müssen wir nichts für unser Visum bezahlen, brauchen auch keine Passfotos, bekommen nur einen Stempel, was wohl damit zu tun hat, dass wir drei Tage in Jordanien bleiben, eine „Belohnung“ offenbar für einen längeren Aufenthalt, die dieses schöne, interessante Land aber auch verdient hat. Die Mehrzahl der Touristen kommt nur für einen Tagesausflug nach Jordanien, oft organisiert von Israel aus und einzig um Petra zu besuchen, und lässt nicht viel Geld im Land.
Heute Nacht bleiben wir in Aqaba, das zu den größeren Städten in Jordanien zählt. Der Grenzübergang liegt ein gutes Stück außerhalb der Stadt. Wir müssen ein Taxi nehmen, um ins Zentrum zu gelangen, die Taxipreise sind angeschlagen, man ist offenbar um Transparenz und ein gutes Image bemüht, und jordanische Dinar hatten wir schon in Ramallah getauscht, so geht alles sehr schnell. Um 11 Uhr stehen wir bereits vor dem Yafko Hotel, das wir im Vorfeld gebucht hatten, und können zu unserer Überraschung schon einchecken, das ist natürlich perfekt. Wir bekommen ein blitzsauberes, großzügiges Zimmer mit tollem Blick auf das Rote Meer, Aqaba und nach Eilat hinüber, wunderbar. Beim Spaziergang durch die Stadt bleibt der Kulturschock aus, auf den uns F. und I. vorbereitet hatten, Aqaba wirkt aufgeschlossen und modern. Die meisten Frauen tragen zwar ein Kopftuch, aber Vollverschleierung sehen wir kaum und man ist offenbar auch tolerant genug oder muss es gezwungenermaßen sein, die teilweise etwas freizügig gekleideten Touristinnen auszuhalten. Beim Spaziergang durch das relativ kleine Zentrum entdecken wir eine bunte Mischung aus modernen Geschäften, schicken Restaurants und Cafés und kleinen, bis zum Überquellen vollgestopften Läden im Tante-Emma-Stil, wie wir sie in Ramallah gesehen haben, oft mit viel Ramsch. Zu unserer Überraschung gibt es auch etliche Spirituosengeschäfte, damit hatten wir in einem muslimischen Land nicht gerechnet, aber Aqaba ist wohl nicht unbedingt repräsentativ für das ganze Land, wie wir später erfahren. Wir kehren in einem kleinen, modernen Restaurant ein, dem „Baba Za'atar“, das auf Manakish spezialisiert ist. Manakish, das sind Fladenbrote, mit Olivenöl beträufelt und Za'atar bestreut, nicht unähnlich den Broten, die F. und I. für uns in der Wüste zubereitet haben. Sie gehören in der gesamten Levante zu den traditionellen Gerichten und werden vor allem zum Frühstück gegessen, aber auch gerne zu anderen Tageszeiten serviert. Die einfachste Zubereitung ist die mit Olivenöl und Za'atar, der typischen levantinischen Gewürzmischung, als deren Hauptzutat Syrischer Ysop Verwendung findet, eine wilde Thymianart mit sehr intensivem Aroma. Zum Grundrezept gehören auch noch Sumach, Salz und vor allem geröstete Sesamsaat, je nach Land und Tradition können noch weitere Gewürze zugesetzt werden. Der Geschmack von Za'atar ist unverwechselbar, es ist ein wahrer Zaubermix, ein Allrounder, der nicht nur orientalischen Gerichten eine besondere Note verleiht. Das „Baba Za'atar“ bietet Manakish in vielen verschiedenen Varianten an, Gerold nimmt eine mit Hühnchen, ich die einfache mit Olivenöl und Za'atar, beide schmecken sehr gut. Anschließend versuchen wir die Weiterfahrt nach Petra zu organisieren, denn deswegen sind wir ja nach Jordanien gekommen. Wir haben herausgefunden, dass Busse zwischen Aqaba und Wadi Musa/Petra verkehren, aber sowohl der Taxifahrer als auch die Angestellten in unserem Hotel behaupteten, dass diese Busse nicht mehr führen, wahrscheinlich, weil sie uns selber Touren verkaufen wollen. Und siehe da – im Büro der Busgesellschaft stellt sich heraus, dass die Busse sehr wohl noch nach Wadi Musa fahren, morgens um 8 Uhr hin und am Nachmittag wieder zurück, Tickets können wir aber erst morgen bekommen, das finden wir natürlich nicht so toll, lieber hätten wir die Fahrscheine heute schon in der Tasche gehabt.
Als es dämmert, gehen wir zum Strand am Roten Meer. Die Einheimischen sitzen in kleinen Gruppen zusammen, plaudern, rauchen Wasserpfeife, Kinder plantschen, Frauen gehen in voller Bekleidung (!) ins Wasser. Es herrscht eine ausgesprochen schöne und friedliche Atmosphäre. Wir bleiben, bis die Sonne blutrot untergegangen ist, und essen danach in einem Imbiss in der Nähe unseres Hotels eher mäßig zu Abend. Dann packen wir um für die Weiterreise, denn das meiste Gepäck werden wir in Aqaba lassen.
Am nächsten Morgen finden wir uns schon vor halb 8 Uhr am Büro der Jett-Busse ein, es gibt kein Problem mit den Tickets für heute und die Rückreise morgen, Gott sei dank! Sowohl der Taxifahrer als auch die nette Rezeptionistin in unserem Hotel haben uns also tatsächlich angeschwindelt. Der Omnibus fährt pünktlich um 8 Uhr ab. Unser Busfahrer sieht mit seiner roten Kufiya, bei uns als „Palästinensertuch“ bekannt, weil es das Markenzeichen von Jassir Arafat war, der das Tuch in der Öffentlichkeit trug und dadurch weltweit bekannt und zu einem politischen Symbol machte, verwegen aus und dem entspricht auch sein Fahrstil, er fährt einen ziemlich heißen Reifen, überholt waghalsig, bremst abrupt ab, beschleunigt dann wieder, dass der Motor aufheult, wir werden ganz schön durchgeschüttelt. Bald schraubt sich die Straße vom Roten Meer hinauf in die Berge von Edom, durch eine extrem lebensfeindliche Wüstenlandschaft, in der fast nichts wächst, an einigen windzerzausten Orten vorbei. Ca. 10 km vor Wadi Musa stoppt der Bus an einem Aussichtspunkt mit Souvenirshop und Café, von dem aus man die Schlucht, in der sich die Ruinenstadt Petra versteckt, nicht wirklich sehen, aber erahnen kann, der Blick von der Aussichtsterrasse ist grandios, noch besser soll er vom Dach des Shops sein, aber dahin gehen wir nicht, denn als wir aussteigen, weht mich der starke Wind fast um, es ist richtig kalt, wir befinden uns hier auf ca. 1500 m Höhe, und sieht nach Regen aus, am Ende bleibt es aber für den Rest des Tages trocken. Gerold hat heute Morgen eine jordanische Zeitung gekauft, in der steht, dass es in den letzten beiden Tagen regional in Jordanien starke Regenfälle gab, mit vollgelaufenen Häusern und weggespülten Autos – Vorzeichen des nahenden Winters, warmes, trockenes Wetter ist nur noch für das Rote Meer bzw. Aqaba vorhergesagt. Hinter dem Aussichtspunkt geht es allmählich abwärts nach Wadi Musa, wo wir nach ca. 2 ½ Stunden sicher ankommen. Der Bus hält am Besucherzentrum von Petra, das Städtchen Wadi Musa erstreckt sich direkt oberhalb davon auf einer Höhe zwischen ca. 1000 und 1400 m Höhe in die Hänge der Edom-Berge, mit atemberaubend steilen Straßen. Es ist ein hübscher, wohlhabend wirkender Ort mit ca. 7000 Einwohnern, der wohl sehr vom Petra-Tourismus profitiert und abhängt. Es gibt hier viele hochpreisige Hotels in der Nähe des Besucherzentrums, wir haben uns für ein günstigeres Guest House in der Oberstadt entschieden. Um keine Zeit zu verlieren, beschließen wir, unser Gepäck mitzunehmen, wir haben ja nur einen kleinen Tagesrucksack dabei, und erst am Abend einzuchecken. Im Besucherzentrum lösen wir ein Ticket für zwei Tage und ziehen dann sofort los. Der Weg in den weiten Talkessel, in dem die Ruinenstätte Petra liegt, verläuft zunächst durch weitgehend offenes Gelände, den sogenannten Bab as-Siq, übersetzt das „Tor zum Siq“. Entlang dieses ca. 900 m langen Wegs, auf dem eine Spur für Pferdekutschen und Pferde abgetrennt ist, kann man schon Felsgrabstätten aus der Zeit der Nabatäer sehen, z.B. das Obeliskengrab und drei monumentale Blockgräber, auch Djinn-Blöcke genannt, weil die Araber vermuteten, dass hier Geister (djinn = Geister) wohnten. Dann verengt sich der Weg zum gut 1 km langen, sanft abwärts führenden sogenannten Siq, einem spektakulären Canyon, der sich immer mehr verengt und dessen senkrechte Seitenwände immer steiler und höher werden, schon alleine das ist ein Erlebnis, das man allerdings mit vielen, sehr vielen anderen Besuchern teilen muss, insbesondere Reisegruppen. Aber wen wundert das, Petra ist schon lange UNESCO-Weltkulturerbe, gehört seit 2007 zu einem der „Neuen Sieben Weltwunder“ und ist zweifellos eine der eindrucksvollsten archäologischen Stätten der Welt. Die meisten Besucher sind zu Fuß unterwegs, aber da muss man schon viel Zeit einplanen, die Wege in Petra sind weit, alleine vom Besucherzentrum bis zum Ende des Siq ca. 2 km. Viele steigen deshalb für diese Strecke in Pferdekutschen, die an den engsten Stellen des Siq, wo er nur ca. 3 m breit ist, gefährlich nah und flott an einem vorbei galoppieren, da hilft oft nur ein schneller Sprung zur Seite. Auch im Siq, dem trockenen Bachbett des Wadi Musa, wandelt man auf den Spuren der Nabatäer. Auf beiden Seiten sind Reste einst kilometerlanger Wasserleitungen zu sehen, Teile eines ausgeklügelten, elaborierten Bewässerungs- und Dammsystems, um Wasser zu stauen, umzuleiten und zu sammeln, erdacht und umgesetzt etwa im 1. Jahrhundert vor Christus, unglaublich!
Am tiefsten Punkt des Siq ist die Schlucht wie ein Spalt, ganz schmal, dunkel und tief. Hier mündet der Siq in den Talkessel, in dem die Felsenstadt Petra liegt, und unvermittelt öffnet sich der Blick auf das sogenannte Schatzhaus, das aber gar kein Haus ist, sondern nur eine Fassade, eine der berühmtesten der Welt. Knapp 40 m hoch und 25 m breit, wurde sie direkt aus dem roten Sandstein gehauen, der, vor allem wenn man aus dem dunklen Siq heraustritt, geradezu leuchtet. Trotz des hohen Besucherandrangs ist es ohne Übertreibung ein magischer Moment, ein unbeschreibliches Erlebnis, plötzlich vor diesem monumentalen Grabmal zu stehen, das wahrscheinlich im 1. Jahrhundert vor Christus für einen Nabatäerkönig errichtet wurde. Auch die Nabatäer wussten wohl um diese Wirkung, wenn man sich ihrer Stadt bzw. dem Schatzhaus von Osten her durch den schmalen Siq näherte, das normalerweise trockene Flussbett des Wadi Musa. Wie alle Wadis kann aber auch der Siq nach starken Regenfällen aufgrund plötzlich auftretender Sturzfluten überschwemmt werden und konnte dadurch auch das Schatzhaus und das gesamte Stadtgebiet des antiken Petra gefährden. (Im November 2018 gab es im Siq eine verheerende Sturzflut, vor der mehr als 3700 Touristen in Sicherheit gebracht werden mussten, in Teilen von Petra stand das Wasser damals bis zu vier Meter hoch!!) Die Nabatäer, Meister des Wassermanagements, wie man heute sagen würde, ließen sich etwas einfallen: Sie errichteten einen hohen Damm, der den Eingang zum Siq abriegelte, und schlugen einen langen Tunnel in eine Schlucht rechts vom Siq, der die Sturzfluten umleitete – was für eine Leistung, unglaublich! Der Zugang zum Siq für Fußgänger wurde durch eine Bogenbrücke gesichert, deren Reste man heute noch sehen kann.
Wir stehen lange staunend vor dem Schatzhaus, das prachtvoll verziert ist mit Friesen und Reliefs, floralen und figurativen Elementen; korinthische Säulen verweisen auf die hellenistische Architektur des Mittelmeerraums – die Nabatäer wussten, wie sie ihre Besucher beeindrucken konnten. Zu beiden Seiten der Fassade kann man noch senkrecht angeordnete Reihen von Kerben erkennen, die wohl während des Baus zum Klettern dienten. Im Arabischen heißt das Schatzhaus „Al-Khazneh“, Schatzhaus des Pharao. Der Name stammt von Beduinen, die glaubten, dass sich in der Urne auf der Spitze des Rundtempels in der Mitte der Fassade der Schatz eines Pharaos befinden würde. Einschusslöcher erinnern daran, dass die Beduinen versuchten, mit Flintenschüssen die Urne zu zerstören und so an die vermeintlichen Schätze zu gelangen, aber die Urne besteht schlicht und einfach nur aus massivem Fels. Im Innern des Schatzhauses befindet sich leere Kammern, die man nicht betreten darf.
Vor dem Grabmal staut sich der Besucherverkehr, denn alle wollen natürlich Fotos von und mit dem prachtvollen Mausoleum, Tourguides und Beduinen mit Kamelen warten auf Kundschaft. Von hier aus kann man nämlich nicht mehr mit Pferdekutschen weiter, Fußfaule müssen jetzt auf Kamele umsteigen, Esel sind auch noch im Angebot, aber die sind wohl eher für Steigungen im Bereich der Ausgrabungsstätte gedacht. Den Transportservice für Besucher, inklusive der Pferdekutschen, bieten fast ausschließlich Beduinen an, verwegen aussehende junge Männer mit blitzenden Augen. Halbnomadische Beduinen waren es auch, die zunächst von Zeit zu Zeit Unterschlupf in den Ruinen suchten und sich später dauerhaft hier niederließen, die verlassenen Grabtempel von Petra als Wohnungen und Stallungen nutzend, seitdem die antike Stadt nach dem 12. Jahrhundert in Vergessenheit geraten war. Dabei hatte die Hauptstadt der Nabatäer in ihrer Blütezeit am Ende des 1. Jahrhunderts vor Christus schätzungsweise 20.000 bis 30.000 Einwohner. Über die Herkunft des nordarabischen Volkes gibt es sehr unterschiedliche Theorien, jedenfalls lebten sie im Bereich von Petra wohl zunächst nur saisonal in Zeltlagern und begannen sich dann im 2. Jahrhundert vor Christus im Schutz der Felsschluchten dauerhaft niederzulassen. Sie nutzten die strategisch günstige Lage Petras am Kreuzungspunkt mehrerer Karawanenwege, die zum Mittelmeer führten, reich wurden sie insbesondere als wichtiger Knotenpunkt für den Handel auf der Weihrauchstraße, eine der ältesten Handelsrouten der Welt, die wahrscheinlich schon seit dem 10. Jahrhundert vor Christus benutzt wurde und auf der vor allem Gewürze, Weihrauch und Myrrhe vom Oman aus über den Jemen, Petra und die Wüste Negev nach Gaza und Damaskus transportiert wurden. In der Blütezeit Petras zwischen dem Ende des 1. Jahrhunderts vor Christus und dem ersten Jahrhundert nach Christus entstanden die meisten der spektakulären Felsgrabstätten, deren Überreste man heute bewundern kann. Zu Beginn des 2. Jahrhunderts nach Christus geriet Petra in Abhängigkeit von Rom, die Stadt florierte aber zunächst weiter. Für den allmählichen Niedergang Petras werden verschiedene Gründe verantwortlich gemacht: Der Handel verlagerte sich aufs Meer, die Stadt geriet deshalb ins Abseits und verlor an Bedeutung. Ein schweres Erdbeben richtete im 4. Jahrhundert nach Christus erhebliche Schäden an und dezimierte die Bevölkerung. Nach dem 12. Jahrhundert geriet die Stadt in Vergessenheit, außer bei den Beduinen, die ihr Geheimnis für sich behielten. Kein Europäer hatte seitdem Petra betreten, das nur noch als Mythos existierte, von dem einige wenige Gelehrte gerüchteweise zu erzählen wussten. Die Wiederentdeckung der antiken Stadt im Jahre 1812 ist der Beharrlichkeit des jungen Schweizers J. L. Burckhardt zu verdanken, der drei Jahre lang in Aleppo Arabisch gelernt hatte und fortan als Scheich verkleidet den Vorderen Orient durchstreifte. Dass er Petra fand, war kein Zufall, er suchte gezielt nach der Nabatäerstadt. Er kannte Gerüchte von einer geheimnisvollen, versunkenen Stadt aus Europa, auch Einheimische hatten ihm davon erzählt. Unter einem Vorwand ließ er sich von einem Beduinen nach Petra führen und traf, durch den Siq kommend, zuerst auf das prachtvolle Schatzhaus. Wir kannten Petra schon von Fotos und waren trotzdem überwältigt, was mag wohl Burckhardt beim Anblick dieses unvergleichlichen, aus dem Fels gemeißelten Monuments empfunden haben? Er notierte akribisch, was er sah, leider überlebte er seine sensationelle Entdeckung nur 5 Jahre und starb sehr jung in Kairo, vermutlich an der Ruhr. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dann mit Ausgrabungen in Petra begonnen, die Touristen folgten auf dem Fuße, über 1 Million waren es im Jahr 2019, die aus dem arabischen Raum und Jordanien nicht eingerechnet. Im November 2019, dem Monat, als wir in Petra waren, kamen allein 150.000 Besucher.
Wir gehen vom Schatzhaus zu Fuß weiter durch den sogenannten äußeren Siq, einer tiefen Schlucht, die sich nach einem engen Durchgang zur „Straße der Fassaden“ weitet. Hier reihen sich große, aus dem Fels gemeißelte Grabfassaden in unterschiedlich gutem Erhaltungszustand unmittelbar nebeneinander, auch sehr beeindruckend. Auf die Straße der Fassaden folgt linkerhand das Theater, das vor mehr als 2000 Jahren von den Nabatäern als weltweit einziges Amphitheater vollständig aus dem Fels gehauen und später von den Römern verändert wurde. Es bot mehr als 8000 Zuschauern Platz, wurde im 4. Jahrhundert n. Chr. durch ein Erdbeben stark zerstört und erst zu Beginn der Sechziger Jahre wieder ausgegraben. Dann tritt man aus der Schlucht heraus und das Wadi öffnet sich und wird breiter. Ein gutes Stück oberhalb des Hauptweges rücken jetzt die sogenannten Königsgräber ins Blickfeld, ein phantastischer Anblick. Zu den vier imposanten Grabstätten, die unmittelbar nebeneinander liegen und die ebenfalls aus dem Fels gemeißelt wurden, führt eine steile Treppe. Ob es tatsächlich Königsgräber waren, kann man nicht mit Sicherheit sagen, die beeindruckenden Fassaden, die prächtigste davon die des Urnengrabs, lassen aber darauf schließen. Wir klettern zu den Gräbern hoch, das Urnengrab wurde im 5. Jahrhundert n. Chr. auch als byzantinische Kirche genutzt, es hat einen großen Innenraum, den man betreten kann, und als auffälligste Besonderheit einen Kolonnadenhof davor, wo sich die Besucher tummeln, denn von dort hat man einen phantastischen Blick auf die eigentliche antike Stadt. Bis auf die Säulenstraße und die Reste mehrerer Tempel ist allerdings vom einstigen Stadtzentrum nichts mehr erhalten. Während die aus dem Fels gehauenen Grabstätten die Jahrtausende überdauerten, blieb von den Wohnhäusern der Nabatäer nichts übrig. Wir steigen wieder ab und laufen über die Säulenstraße, deren charakteristische Kolonnaden aus der Römerzeit stammen, auf den Qasr al-Bint Far'un zu, ein von den Nabatäern erbautes, freistehendes Bauwerk, einst wohl der Haupttempel der Stadt. Anschauen können wir uns die stattlichen Überreste des Tempels nicht mehr, auch nicht den sogenannten Großen Tempel, die Zeit sitzt uns schon im Nacken, um 16 Uhr schließt nicht nur die Anlage, da werden wir in der Nähe des Besucherzentrums auch von unserem Hotel abgeholt, und wir haben noch einen langen Rückweg vor uns. Also eilen wir schnellen Schrittes zurück, nach einem beeindruckenden ersten Tag in Petra. Unser Hotel liegt in den steilen Hängen der Oberstadt, wir bekommen ein riesiges Zimmer mit drei Betten, offenbar ist das Guest House nicht ausgebucht, die Saison läuft hier allmählich aus, es geht auf den Winter zu. Das merken wir auch an den Temperaturen, es ist richtig kalt am Abend – und wir haben, nicht bedenkend, wie hoch Wadi Musa liegt, all unsere warmen Sachen in Aqaba gelassen. Von unserem Zimmer aus haben wir einen tollen Blick auf das nächtliche Wadi Musa, geradezu phänomenal ist die Aussicht vom Balkon des großzügigen Aufenthaltsraums aus. Aber leider ist es zu kalt und stürmisch, sich dort hinzusetzen. In der Nähe gibt es wenig Einkehrmöglichkeiten, wir nehmen deshalb am Buffet in unserem Hotel teil, ist nicht überragend, aber in Ordnung.
Das Frühstück ist inklusive und wird ab 6.30 Uhr serviert, um 7.30 Uhr gibt es den ersten Shuttle zum Besucherzentrum, den nehmen wir, lieber wären wir noch früher unterwegs gewesen, denn die Ausgrabungsstätte öffnet schon um 6 Uhr, aber es ist viel zu weit, um zu Fuß zu laufen. Die Chefin fährt uns persönlich, zusammen mit zwei wortkargen jungen Deutschen. Sie kommt aus Neuseeland, ist mit einem Jordanier verheiratet und lebt schon lange hier. Wir fragen sie, warum es in Aqaba so viele Spirituosenläden gebe. Das sei nicht typisch für Jordanien, meint sie, und würde es in der Form nur noch in Amman geben. Dann redet sie sich richtig in Rage und schimpft über die scheinheiligen Saudis, die gute Abnehmer für Hochprozentiges seien und nach Jordanien kämen, um hinter verschlossenen Türen ausgiebig dem Alkohol zuzusprechen. „They are boozing like hell“, meint sie abfällig. Da es eisig kalt und sehr windig war heute Morgen und wir wenig weitsichtig in sommerlicher Kleidung angereist sind, haben wir uns schon im Hotel mit Zeitungspapier versorgt, damit stopfen wir unsere dünnen Fleecejacken aus, Gerold hat sich gegen die Kälte zusätzlich eine Plastiktüte um den Kopf gewickelt. Da bin ich doch etwas eitler und kaufe mir in einem der vielen Souvenirläden am Besucherzentrum ein Palästinensertuch als Wind- und Kälteschutz für den Kopf. Trotzdem frieren wir anfangs gotterbärmlich, erst im Laufe des Vormittags wird es so warm, dass wir sogar unsere Jacken ablegen können. Obwohl wir schon vor 8 Uhr in Petra ankommen, ist dort bereits die Hölle los. Vor allem Reisegruppen, asiatische insbesondere, strömen in großer Zahl durch den Siq dem Schatzhaus entgegen. Da wir gestern die wichtigsten Attraktionen entlang des Hauptweges gesehen haben, nehmen wir uns heute Nebenrouten vor. Wir klettern zu einem Aussichtspunkt, von dem aus man einen genialen Blick auf das Schatzhaus von oben werfen kann und erklimmen dann vom Theater aus die vielen steilen Treppen zum sogenannten Opferplatz, unterwegs haben wir atemberaubende Blicke zurück auf den Talkessel, in dem sich die antike Stadt ausbreitet. Und das Beste: Wir sind den Massen entkommen, hier oben sind kaum noch Leute unterwegs, denn die Treppen kann man nur zu Fuß oder mit einem Esel als Transportmittel bewältigen, was bei derart steilen Stufen vielleicht nicht so empfehlenswert ist…. Die Kultstätte liegt knapp 1100 m hoch auf einem Plateau und wurde wohl für wichtige religiöse Zeremonien benutzt. Leider ist es so kalt und stürmisch, dass wir uns mit unserer leichten Bekleidung nur kurz umschauen können. Vom Opferplatz ist ein Weg zum Qasr al-Bint Far'un ausgeschildert, wir müssen also nicht dieselbe Strecke zurückgehen und kommen so in den Genuss einer wirklich beeindruckenden Wanderung. Ohne Geländer steigen wir über steile, ausgetretene und verwitterte Stufen ins Wadi Farasa ab, wieder mit grandiosen Blicken. Aber nicht nur die Wüstenlandschaft ist sehenswert, es gibt auch noch viele Überreste aus der Zeit der Nabatäer zu entdecken. Kein Wunder, ca. 1000 Stätten sind in Petra registriert und die Ausgrabungen noch längst nicht abgeschlossen. Von den größeren Ruinen schauen wir uns den sogenannten Gartentempel und das Soldatengrab an, aber überall sind noch andere, namenlose Überreste versteckt. Es ist die Kombination aus farbenfroher Wüstenlandschaft, an vielen Stellen ist das Felsgestein von ungewöhnlichen mehrfarbigen Streifen durchzogen, und den archäologischen Stätten der Nabatäer, die diese Wanderung zu einem einmaligen Erlebnis macht. Der Weg endet oberhalb des sogenannten Großen Tempels, der aber wohl nicht als Tempel diente, sondern wahrscheinlich als königlicher Empfangssaal errichtet wurde, trotzdem hielt sich die Bezeichnung „Großer Tempel“ als eine der wichtigsten archäologischen Stätten im Zentrum von Petra. Was man heute noch sehen kann, sind die Überreste eines riesigen Kolonnadenhofs, deren Säulen teilweise mit einzigartigen Elefantenkapitellen verziert sind, und vieles andere. Wir schauen uns nur kurz um, die Zeit drängt schon wieder. Der Tempel wurde später von den Römern umgebaut und verändert und durch mehrere Erdbeben stark zerstört, im 20. Jahrhundert hausten Beduinen dort und nutzten oder besser missbrauchten die noch verbliebenen Überreste teilweise auch als Stallungen. Gleich neben dem Großen Tempel liegt der Qasr al-Bint Far'un, ein fast quadratisches Bauwerk, das auf einem Podest steht und der Haupttempel von Petra war, auch das schauen wir uns an. In der Nähe befindet sich ein Servicebereich mit Restaurant und ein Museum, wir verschnaufen kurz nach diesem intensiven, erlebnisreichen Vormittag. Obwohl die Zeit schon knapp wird, beschließen wir, noch den Aufstieg zum sogenannten Kloster in Angriff zu nehmen, dem Ad Deir, das abseits des antiken Stadtzentrums hoch in den Bergen liegt. Der Weg dorthin beginnt hinter dem Service-Bereich und folgt einem alten Prozessionsweg in eine enge Schlucht hinein. Über 800 steile Stufen sind zu bewältigen, dazwischen gibt es aber auch flache Stücke, trotzdem ein anstrengender Anstieg. Rechts und links des Weges gäbe es noch einiges zu entdecken, aber dafür fehlt uns die Zeit. Es ist sehr viel los auf der Strecke, denn das Kloster gehört zu den herausragenden Sehenswürdigkeiten in Petra, etliche Touristen lassen sich auch mit einem Esel hinauf transportieren. Der Pfad ist gesäumt von Ständen, die Souvenirs und Getränke feilbieten, die meisten von Beduinenfrauen betrieben. Die Blicke zurück in den Talkessel von Petra sind phantastisch. Schließlich erreichen wir das Plateau, auf dem das Kloster liegt, der Anblick ist überwältigend. Ad Deir ähnelt dem Schatzhaus, dem „Al-Khazneh“, ist aber monumentaler, 47 m breit und 48 m hoch, nicht so reich verziert und steht ganz offen auf dem Plateau, anders als das „Al-Khazneh“, das versteckt und eingezwängt in der engen Schlucht des äußeren Siq liegt. Wie das Schatzhaus wurde Ad Deir von den Nabatäern als Fassade aus dem Fels gemeißelt. Im Innern, das man nicht betreten kann, befindet sich eine Halle, in deren rückwärtige Wand Kreuze geritzt sind, was auf die spätere christliche Nutzung im 4. Jahrhundert nach Christus verweist, als Mönche sich hier niederließen, daher die eigentlich irreführende Bezeichnung „Kloster“. Über die Nutzung von Ad Deir zur Zeit der Nabatäer ist man sich in der Forschung uneinig: Wurde das Bauwerk als Grabstätte erbaut, wie das Schatzhaus, oder diente es als Kultstätte? Was auch immer es den Nabatäern war oder bedeutete – die einsame Lage und der Anblick sind einzigartig. Das erklärt den großen Besucherandrang, hier oben ist richtig viel los. Gegenüber dem Ad Deir gibt es eine Art Café, das gut besetzt ist, dahinter kann man noch weiter aufsteigen zum höchsten Punkt des Plateaus auf einer Felskuppe, sicher lohnenswert, aber wir fühlen uns unter Zeitdruck, unser Bus fährt um 16 Uhr am Besucherzentrum ab, bis dahin brauchen wir, auch wenn wir stramm gehen, mindestens eine Stunde, sehr schade, in der Umgebung des Ad Deir gibt es noch eine Menge zu entdecken. So eilen wir ohne weitere Pausen zurück in den Talkessel, in dem Petra liegt, und hinauf zum Besucherzentrum. Der Bus verlässt pünktlich Wadi Musa, wir fahren in die Abenddämmerung hinein und haben noch atemberaubende Blicke auf die Edom-Berge und kleine Orte, die sich steil in die Hänge ausdehnen. Nach ca. drei Stunden erreichen wir Aqaba, dort ist es angenehm warm, nach dem anstrengenden Tag reicht unsere Energie nur noch für einen Stadtspaziergang zum Abendessen.
Am Tag unserer Abreise nach Deutschland wird es noch einmal sommerlich warm. Der Flug geht erst am späten Nachmittag, uns bleibt noch Zeit für einen letzten Spaziergang durch Aqaba und zum Roten Meer. Im Baba Za'atar lassen wir uns noch einmal Manakish schmecken, in einem modernen Supermarkt decken wir uns reichlich mit Za'atar ein. Die nette Dame von der Rezeption unseres Hotels ruft uns ein Taxi, sie empfiehlt uns wiederzukommen, denn man habe gerade angefangen, das Hotel zu modernisieren. Das war im November 2019, kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie und ich mag mir nicht vorstellen, wie es der Tourismusbranche in Jordanien seitdem ergangen ist. Den Rest des Nachmittags verbringen wir im King Hussein International Airport, so heißt der sehr kleine Flughafen etwas großspurig, aber uns ist das lieber als Massenbetrieb. Mit einer Stunde Verspätung heben wir nach Deutschland ab – nach einer der besten, spannendsten und eindrucksvollsten Reisen, die wir je gemacht haben.