Donnerstag, 10. Dezember 2015

Sommer 2015, Teil 3: Über Berlin zurück nach Jexmühle


Sommer 2015, Teil 3Über Schwerin und Berlin zurück nach Jexmühle
 
1.8.2015  bis 5.8.2015
62 km

Am Abend des 1. August 2015 kommen wir mit der Fähre aus Klaipėda in Kiel an und fahren mit der Bahn zu Jörg in Eckernförde, wo unser Auto steht. Uns bleibt noch Zeit für einen Abstecher nach Berlin. Auf dem Wege dorthin machen wir einen kurzen Stopp in Schwerin, um diese schöne Stadt kennenzulernen. 

In Berlin bleiben wir zwei Tage. Wir schauen uns die Gedenkstätte Hohenschönhausen an. Das ehemalige Stasi-Gefängnis kann nur im Rahmen einer Führung besichtigt werden. Diese beginnt in den Kellerräumen einer ehemaligen Großküche, in der die Sowjets 1945 das sogenannte Speziallager 

Nr. 3 und nach dessen Schließung Ende 1946 das zentrale sowjetische Untersuchungsgefängnis für Ostdeutschland einrichteten. Die Lebens- bedingungen hier waren katastrophal. Die fensterlosen, bunkerartigen Zellen waren unbeheizt und so feucht, dass selbst die Haare der Inhaftierten schimmelten. Tag und Nacht war eine Glühbirne angeschaltet. Die Verhöre fanden vor allem in der Nacht statt und waren oft von Drohungen und körperlicher Gewalt begleitet. Ehemalige Häftlinge berichteten später, wie sie durch Schlafentzug, stundenlanges Stehen, tagelangen Arrest oder Aufenthalt in Wasserzellen zu Geständnissen gezwungen wurden. Zu den Inhaftierten zählten neben NS-Verdächtigen vor allem mutmaßliche politische Widersacher. In der Zeit des Speziallagers war einer der prominentesten Häftlinge der Schauspieler Heinrich George, der Vater von Götz George, dem unter anderem Beteiligung an NS-Propagandafilmen vorgeworfen wurde. Er starb 1946 im Speziallager Sachsenhausen.

 Ab 1951 übernahm das Ministerium für Staatssicherheit das Kellergefängnis und  erweiterte es Ende 1960 durch einen Neubau, der bis Januar 1990 als zentrale Untersuchungshaftanstalt genutzt wurde. Tausende politisch Verfolgte waren an diesem Ort inhaftiert, darunter fast alle bekannten DDR-Oppositionellen. Dieses Gebäude besichtigen wir als nächstes. Hier lernen wir alle Stationen der Untersuchungshaft kennen, von der Einlieferung über die erkennungsdienstliche Behandlung bis zur Vernehmung. Seit den 60er Jahren verzichtete man zunehmend auf die physische Gewalt der 1950er Jahre und setzte mehr auf  raffinierte psychologische Foltermethoden. Über den Ort ihrer Haft ließ man die Häftlinge bewusst im Unklaren. Sie wurden mit Spezialfahrzeugen aufgegriffen, die als Auslieferungswagen z.B. für Fisch und Backwaren getarnt waren, und dann stundenlang durch die Gegend gefahren, damit sie die Orientierung verloren. Systematisch gab man ihnen das Gefühl, einem allmächtigen Staat ausgeliefert zu sein. Bei der erkennungsdienstlichen Behandlung mussten sich die Häftlinge nackt ausziehen und bewacht von Wärtern oft  stundenlang ausharren, eine entwürdigende Situation. Sie bekamen Pritschen, die zu klein waren, so dass sie sich zum Schlafen nicht richtig ausstrecken konnten, und Gefängniskleidung, die zu klein oder zu groß war, damit sie lächerlich aussahen. Von der Außenwelt waren sie hermetisch abgeschnitten und von den Mitgefangenen meist streng isoliert. Tagsüber durften sich die Häftlinge nur auf die Bettkante setzen, nicht ausstrecken. Die Wärter konnten das jederzeit durch eine Klappe kontrollieren. Dass sie sich näherten, hörte man nicht, denn die Flure waren mit dicken Teppichen ausgelegt. Wer sich nicht an die Regeln hielt, musste zur Strafe z.B. stundenlang in kaltem Wasser stehen oder wurde in eine komplett schwarz verkleidete Gummizelle eingesperrt, in der man sich, wenn einen die Verzweiflung überwältigte, aber nicht verletzen konnte. 120 Vernehmungszimmer standen zur Verfügung, wo die Gefangenen  monatelang verhört wurden, um sie zu belastenden Aussagen zu bewegen. Während der Vernehmungen saß der Stasibeamte  auf einem bequemen Stuhl an einem großen Schreibtisch, der Häftling dagegen auf einem kleinen Hocker. Der Inhaftierte sollte erniedrigt und psychisch vernichtet werden, damit er nie wieder aufsässig und politisch aktiv würde. Die Führung dauert 1 ½ Stunden und ist sehr informativ und spannend. 

Anschließend fahren wir mit den Rädern weiter zum Stasi-Museum im Haus 1 des früheren Ministeriums für Staatssicherheit in der Ruschestraße. Hier ist auf drei Etagen eine Dauerausstellung untergebracht, in deren Mittelpunkt die Frage steht, wie es der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) über 40 Jahre hinweg gelang, die Menschen in der DDR unter Kontrolle zu halten. Wichtigstes Instrument dabei war das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), das als sogenanntes „Schild und Schwert der Partei“ unter der Führung der SED die „Arbeiter- und Bauernmacht“ zu schützen und das Herrschaftsmonopol der SED-Diktatur abzusichern hatte. Die Dauerausstellung klärt über Aufbau, Entwicklung und Arbeitsweise des MfS auf. Sie informiert den Besucher über die Menschen, die für diese Institution tätig waren, und zeigt die Methoden, die sie bei der Kontrolle und Verfolgung der DDR-Bevölkerung anwendeten. Hunderttausende waren für das MfS aktiv. Sie waren hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeiter oder sie unterstützten das MfS als Funktionäre in der Verwaltung. In der Dauerausstellung werden zahlreiche, oft einmalige Objekte wie Spezialkameras, Wanzen, Einbruchswerkzeuge oder Geräte zum heimlichen Öffnen von Briefen präsentiert, die das Ausmaß der Überwachung durch das MfS veranschaulichen. Ausgewählte Beispiele aus unterschiedlichen Stasi-Akten dokumentieren die Aktivitäten des MfS gegen die eigene Bevölkerung.
Besonders interessant für uns ist die 2. Etage, die Minister-Etage, die nach den Bedürfnissen von Erich Mielke, dem letzten Minister für Staatssicherheit geplant wurde. Als DDR-Bürger im Januar 1990 das Gebäude stürmten, um die Vernichtung von Stasi-Akten zu verhindern, blieb dieser Bereich nahezu unangetastet. So können die ehemaligen Diensträume von Erich Mielke noch heute weitestgehend im Originalzustand besichtigt werden. Mielke hatte hier nicht nur seinen Arbeitsplatz, sondern ein ganzes Apartment, mit Bad, Küche und Ruhebett. Die gesamte Einrichtung wirkt unglaublich spießig und banal. Heute ist kaum noch  vorstellbar, dass das einmal die Machtzentrale des gefürchteten und mächtigen Stasi-Chefs war, der von hier aus den riesigen Bespitzelungs- und Unterdrückungsapparat der Stasi dirigierte. 


Die 3. Etage beschäftigt sich mit der Auflösung der Stasi. In Endlosschleife kann man sich dort Mielkes peinlichen Auftritt vom 19. November 1989 vor der DDR-Volkskammer anhören, als er, der einst unangreifbare Stasi-Chef, ausgelacht wurde und schließlich  in abgehackten Sätzen stammelte: „Ich liebe – Ich liebe doch alle – alle Menschen. – Na ich liebe doch – Ich setze mich doch dafür ein!“ 

Außerdem gibt es auf der 3. Etage  eine Sonderausstellung zu Udo Lindenberg und Erich Honecker, benannt nach Lindenbergs Song „Mit dem Sonderzug nach Pankow“. Darin besang er 1983 seinen Wunsch, in der DDR aufzutreten, was ihm einige Jahre zuvor versagt worden war. Der Song sorgte für viel Ärger in der DDR, gleichwohl durfte Lindenberg im Oktober 1983 zum ersten und einzigen Mal in Ost-Berlin auftreten, aber als er die Bühne im Palast der Republik betrat, saßen dort nur Funktionäre. Die richtigen Fans hatten sich draußen vor der Tür versammelt, zu Tausenden, und riefen: „Wir wollen rein.“   Für die Stasi bedeutete der Auftritt einen Großeinsatz. Sie observierte jeden Schritt Lindenbergs, bis zur Toilette.  

In der Ausstellung ist die berühmte schwarz-rote Lederjacke zu sehen, die Lindenberg 1987 an Erich Honecker schickte. Der revanchierte sich mit einer Schalmei und bei Honeckers erstem Besuch in Westdeutschland im gleichen Jahr schenkte Lindenberg ihm eine E-Gitarre mit der Aufschrift „Gitarren statt Knarren“. 

An unserem zweiten Berlin-Tag erkunden wir mit den Rädern Kreuzberg und Neukölln, fahren dann zum wiederholten Male zur East Side Gallery, dem längsten noch erhaltenen Teilstück der Berliner Mauer, und anschließend ins Zentrum und zum Brandenburger Tor. Auf der Spreeinsel wird seit 2013 am Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses gearbeitet, dessen Ruinen die SED 1950 abreißen ließ. Noch ist da eine riesige Baustelle, aber das Schloss nimmt schon Gestalt an. 


Am nächsten Tag reisen wir über Quedlinburg zurück nach Jexmühle – nach einem unglaublich spannenden Sommer.








Die Sommerferien sind noch nicht zu Ende: Von Eckernförde aus fahren wir nach Berlin und machen auf dem Weg dorthin einen kurzen Abstecher nach Schwerin. Das Wahrzeichen der Stadt ist das Schweriner Schloss, das auf einer Insel im Schweriner See liegt.


Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: In den Kellerräumen dieses Gebäudes, früher eine Großküche der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, war seit 1945 das sowjetische Speziallager Nr. 3 untergebracht und ab 1947 das zentrale sowjetische Untersuchungsgefängnis für Deutschland. 1951 übernahm dann die Stasi das Kellergefängnis.


Hauptrolle im antisemitischen Nazi-Propagandafilm von 1940:
Heinrich George als Herzog (rechts) mit  "Jud Süß" Ferdinand Marian. 
Der Vater von Götz George wurde nach Kriegsende unter anderem wegen seiner Beteiligung an NS-Propagandafilmen von den Sowjets im Speziallager Nr. 3 in Hohenschönhausen interniert. Tatsächlich hatte sich George, der zunächst mit dem Kommunismus sympathisierte, nach 1933 mit den Nationalsozialisten arrangiert, aber er setzte  sich auch wiederholt für jüdische Künstlerkollegen ein, denn im Herzen war er kein Nazi. George kam im Sommer 1946 in das Speziallager Sachsenhausen, wo er wenig später starb. Seine Gebeine wurden erst 1994 nach Angaben eines Mithäftlings in einem Waldstück bei Sachsenhausen gefunden und mittels eines DNA-Vergleichs mit seinen Söhnen identifiziert. Heute hat er ein Ehrengrab in Berlin-Zehlendorf.


In den Kellerräumen der ehemaligen Großküche mussten die Häftlinge seit 1947 fensterlose, bunkerartige Zellen errichten, das sogenannte "U-Boot". Die feuchtkalten Kammern waren nur mit einer Holzpritsche und einem Kübel ausgestattet.


Im "U-Boot"- Trakt: Durch diese Türen gab es kein Entkommen.


Der Vernehmertrakt wurde von der Stasi neu errichtet und war durch Gitterschleusen direkt mit dem Zellentrakt verbunden. In den 120 Vernehmungszimmern fanden die wochenlangen, meist mehrstündigen Verhöre statt.


Zelle mit Pritsche, Tisch, Hocker und Gefängniskleidung im 1960 neu errichteten Zellentrakt


Erkennungsdienstliche Behandlung: Hier fertigte man sogenannte Täterlichtbilder an, für die sich der Inhaftierte auf den drehbaren Holzstuhl setzen musste. Die Registriernummer wurde in die Leiste des daneben stehenden Gestells geschoben und mitfotografiert. Der Schriftsteller Jürgen Fuchs berichtete, dass er 1976 in dem Fotoraum längere Zeit auf dem Stuhl angeschnallt sitzen musste und ein lautes Lampengeräusch vernahm. Danach habe er rätselhafte, schlagartige Gesundheitsveränderungen verspürt. Er äußerte den Verdacht, dass man ihn damals insgeheim radioaktiv bestrahlt hätte. Wie andere inhaftierte Dissidenten, z.B. Rudolf Bahro, starb er  an einer Krebserkrankung - 1999 im Alter von nur 48 Jahren.

Stasi-Museum in Berlin: Der Arbeitsplatz von Erich Mielke, dem letzten Minister für Staatssicherheit, ist weitestgehend im Originalzustand erhalten.


Mielke hatte im Ministerium für Staatssicherheit ein ganzes Apartment zu seiner Verfügung. Hier sein Ruhebett.


In der 3. Etage des Stasi-Museums haben wir Gelegenheit, uns die Sonderausstellung "Mit dem Sonderzug nach Pankow" zu Udo Lindenberg und Erich Honecker anzuschauen. Hier sind die Geschenke zu sehen, die sie sich gegenseitig machten: Die berühmte schwarz-rote Lederjacke, die Lindenberg 1987 an Erich Honecker schickte, die Schalmei, mit der sich Honecker revanchierte und die E-Gitarre mit der Aufschrift "Gitarren statt Knarren", die Udo Lindenberg Honecker 1987 bei seinem ersten Besuch in Westdeutschland schenkte.


                                                   Udo Lindenberg auf der Bühne im großen Saal des Palastes der Republik 1983
Udo Lindenberg 1983 bei seinem Auftritt im Palast der Republik.


             http://www.mdr.de/damals/archiv/bild209484_v-variantBig16x9_w-576_zc-915c23fa.jpg?version=18109
Wuppertal 1987: Udo Lindenberg überreicht Erich Honecker bei seinem ersten Besuch in West-Deutschland eine E-Gitarre mit der Aufschrift "Gitarren statt Knarren". Rechts im Bild Johannes Rau.


                                    abfotografierte Stasiakte Lindenbergs
Auszug aus der Stasi-Akte von Udo Lindenberg


An unserem zweiten Berlin-Tag erkunden wir die Stadtteile Neukölln und Kreuzberg. Die Oberbaumbrücke, die schönste Brücke Berlins,  verbindet Kreuzberg und Friedrichshain. Zur Zeit des geteilten Deutschland war sie gesperrt, denn quer über die Brücke verlief die Grenze zwischen Ost- und Westberlin.


http://blog.inberlin.de/wp-content/uploads/2012/05/kreuzberso36_Oberbaumbruecke_1982.jpg
Die Oberbaumbrücke zur Zeit des geteilten Deutschland.


Auf der Spreeinsel in Berlin: Das Berliner Stadtschloss war einst das dominierende Bauwerk in der historischen Mitte Berlins. 1950 beschloss die SED, das stark beschädigte Gebäude ganz zu beseitigen. Später entstand auf dem Gelände der Palast der Republik, der wiederum ab 2006 abgerissen wurde. 2013 begann man mit dem Wiederaufbau des Berliner Schlosses an alter Stelle, der 2019 abgeschlossen sein soll. 



In den Ruinen von Berlin: Das vom Krieg zerstörte Stadtschloss, um 1947
Das vom Krieg zerstörte Berliner Schloss um 1947


1950: Das Schloss wird gesprengt.


Das Portal des Berliner Schlosses überlebte: Von dessen Balkon aus hatte Karl Liebknecht am 9. November 1918 die Sozialistische Republik ausgerufen. Deshalb wurde es später als Symbol für die Verwirklichung der Ziele Liebknechts und der Novemberrevolution in Form der sozialistischen DDR in die Fassade des Staatsratsgebäudes der DDR integriert.
Im Staatsratsgebäude, das in unmittelbarer Nähe zum Berliner Schloss steht, arbeiteten Walter Ulbricht und Willi Stoph und  von 1976 bis 1989 Erich Honecker. Von 1999 bis 2001 hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hier seinen Berliner Dienstsitz, weil das neue Bundeskanzleramt am Reichstagsgebäude noch nicht fertiggestellt war. Heute ist in dem Gebäude eine Managerschule untergebracht.

9. November 1918: Karl Liebknecht ruft vom Balkon des Berliner Schlosses die Sozialistische Republik aus.


Auf dem Rückweg von Berlin nach Jexmühle machen wir einen kurzen Stopp in der wunderschönen Fachwerkstadt Quedlinburg.






Freitag, 16. Oktober 2015

Polen und Litauen Sommer 2015, Teil 2: Litauen



Litauen im Sommer 2015:   27.7.2015  bis  31.7.2015

365 km
525 Höhenmeter

Am frühen Morgen passieren wir kurz hinter dem polnischen Dorf Wiżajny die Grenze zu Litauen. Im ersten Ort schauen wir uns neugierig in dem kleinen Dorfladen um. Wir können unsere Euros wieder auspacken, denn Litauen gehört seit dem 1. Januar 2015 als neunzehntes Land zum Euro-Raum. Im Vergleich zu Polen wirkt das kleine Land zumindest auf den ersten Blick deutlich ärmer und unterentwickelter. Bald geht es flott abwärts in eine weite Ebene, kräftig angetrieben durch Rückenwind fliegen wir nur so dahin und fahren an unserem ersten Litauen-Tag fast 120 km. Verglichen mit dem schönen Masuren finden wir die Landschaft eher etwas eintönig, endlose Weizenfelder, kaum Abwechslung. Gegen Abend erreichen wir Šakiai, einen größeren Ort. Auf einem Plan bei der Touristeninformation ist ein Campingplatz an der nicht mehr weit entfernten Memel verzeichnet, ca. 15 km von hier  in Gelgaudiškis. Die werden wir jetzt auch noch schaffen. In  Gelgaudiškis irren wir eine Weile am Ufer der Memel entlang, einen Campingplatz können wir aber nicht finden und in dem kleinen Ort gibt es auch keine andere Übernachtungsmöglichkeit. Es ist schon spät, bis Jurbarkas, der nächsten Stadt mit Hotels können wir es jetzt kaum noch schaffen. Aber wo sollen wir hier wild zelten, in dieser weiten, offenen Landschaft kann man sich nicht verstecken. Gerold stoppt ein Auto, der junge Mann am Steuer spricht etwas Englisch. Nein, ein Hotel würde es hier nicht geben, meint er, aber wir könnten auf dem Grundstück seiner Mutter zelten. Er fährt voraus, wir holpern 4 km  über eine sehr schlechte Piste hinter ihm her. Mutter und Stiefvater wissen wohl auch nicht, wie ihnen geschieht, als wir plötzlich vor der Tür stehen, sind aber sehr freundlich. Sie beobachten interessiert, wie wir unser Zelt aufstellen und Gerold mit den Vorbereitungen für das Abendessen beginnt. Mindaugas, so heißt der junge Mann, verabschiedet sich schon bald zu seiner eigenen Familie, jetzt wird es schwierig mit der Kommunikation. Der Stiefvater spricht ein paar Worte Deutsch und zeigt Gerold nach dem Essen noch das Grundstück und die Ställe mit Ziegen und Kaninchen. Der Gegensatz könnte größer nicht sein: In Wiżajny hatten wir letzte Nacht ein ganzes Ferienhaus, heute Abend haben wir zwar nur ein Plumpsklo, dürfen aber eine unglaubliche Gastfreundschaft erleben.  Am nächsten Morgen werden wir noch mit Gemüse aus dem Garten versorgt und natürlich zeigen wir uns gerne erkenntlich.

Die letzten 15 km bis Jurbarkas holpern wir über einen ziemlich üblen Schotterweg, um uns die stark befahrene Hauptstraße zu ersparen. In Litauen gibt es noch viele Pisten, das ist uns schon gestern aufgefallen. Hinter Jurbarkas verändert sich die Landschaft, wir fahren lange durch ein Waldgebiet. Einsam ist die Strecke, wie auch gestern schon. Litauen ist dünn besiedelt, die meisten Menschen leben in den Städten. Im Bereich von Häusern sitzen manchmal Leute mit ein paar Gläsern Eingemachtem an der Straße, Gemüse, Pilze und Beeren, die sie zum Verkauf anbieten. Einmal müssen wir fast zwei Stunden in einem Bushäuschen Zuflucht suchen, weil sich ein Gewitter mit heftigem Regen austobt. 

Wir sind jetzt unterwegs im Memelland, einem Landesteil des früheren Ostpreußen nördlich der Memel und dem entsprechenden Teil der Kurischen Nehrung, der bis zum Ersten Weltkrieg zum Deutschen Reich gehörte. Durch den Versailler Vertrag wurde er 1919 vor allem auf Betreiben Frankreichs dem Völkerbund unterstellt und später Litauen übertragen, trotz heftiger Proteste aus der Bevölkerung, die auf die über 600jährige deutsche Tradition verwies und durch Petitionen und Umfragen nahezu geschlossen für einen Verbleib beim Deutschen Reich eintrat. Aber anders als im südlichen Teil Ostpreußens waren die Memelländer von den Alliierten nicht zu einer Volksabstimmung über den Verbleib beim Deutschen Reich aufgerufen worden. Hitler setzte 1939 die Rückgabe an Deutschland durch, 1945 wurde es wieder Litauen angegliedert. 

In dem kleinen Ort Vilkyškiai (ehemals Willkischken) machen wir eine kurze Pause und sind überrascht, eine erstaunlich gut ausgestattete, hochmoderne Touristeninformation vorzufinden. Eine junge Dame, die hervorragend Deutsch spricht, versorgt uns mit wichtigen Informationen und macht noch ein Foto von uns Radlern – vielleicht glänzen wir mittlerweile schon auf einer Touristenbroschüre. Wir bekommen eine Empfehlung für ein Hotel in der Nähe, der wir gerne nachkommen, da es schon wieder regnet. Von dort aus machen wir am nächsten Morgen einen Abstecher zum Rombinus-Park in der Nähe, mit schönen Ausblicken auf die Memel und durch das Storchendorf Bitėnai. Über Pagėgiai erreichen wir gegen Abend Šilute, das frühere Heydekrug. Dieser Abschnitt ist wenig prickelnd, weil die Straße sehr stark befahren ist. Die Touristeninformation in Šilute ist ebenfalls gut ausgestattet, eine nette Dame erklärt uns in sehr gutem Deutsch den Weg nach Minija, von dort aus wollen wir morgen die Fähre nach Nida nehmen. Minija wird auch als das Venedig Litauens bezeichnet, es ist ein hübscher Ort, aber das finden wir dann doch etwas übertrieben. Wir zelten an der Fähranlegestelle, damit wir am nächsten Tag das erste Boot nehmen können. 

Die stürmische Fahrt über das Kurische Haff dauert mehr als zwei Stunden, dann legen wir in Nida an, dem wohl schönsten und touristischsten Ort auf dem litauischen Teil der Kurischen Nehrung, die das Kurische Haff von der Ostsee trennt. Wir schauen uns das Thomas-Mann-Haus an, in dem der Schriftsteller mit seiner Familie drei Sommer verbrachte, von 1930 bis 1932. Dann machen wir uns auf den Weg Richtung Norden. Leider beginnt es schon bald zu regnen und das bleibt mehr oder weniger so bis Smiltynė, so dass uns die schönste Fahrradetappe in Litauen durch extrem schlechtes Wetter verdorben wird. Auch können wir deswegen unterwegs kaum verweilen und uns fast nichts anschauen. Gegen Abend nehmen wir von Smiltynė aus die Fähre über die schmalste Stelle des Kurischen Haffs nach Klaipėda, dem früheren Memel. Für die Hafenstadt, die im Zweiten Weltkrieg  stark zerstört wurde, haben wir nicht viel Zeit, denn schon  am nächsten Abend besteigen wir die Fähre und erreichen einen Tag später Kiel und per Bahn Jörg in Eckernförde, wo unser Auto steht. 



Unsere Route durch Polen und Litauen:

Polen litauenStepMapPolen litauen




Am frühen Morgen passieren wir kurz hinter dem polnischen Ort Wiżajny
die Grenze zu Litauen. Estland und Lettland kennen wir schon von einem früheren Besuch vor vielen Jahren, Litauen ist Neuland für uns.


Zunächst fahren wir durch hügeliges Gelände.


Holzhäuser im skandinavischen Stil scheinen zumindest für das ländliche Litauen
typisch zu sein. Im Vergleich zu Polen wirkt das kleine Land
auf den ersten Blick deutlich weniger wohlhabend.


Ein prächtiger Bauerngarten in einem Dorf hinter der Grenze......


......., in dem wir eine kurze Pause machen und uns neugierig in dem kleinen Dorfladen umschauen: Jetzt können wir wieder unsere Euros auspacken, denn Litauen gehört seit dem
1. Januar 2015 als neunzehntes Land zum Euro-Raum.


An 1000 Jahre Litauen erinnert dieses Denkmal,
das von der Europäischen Union gefördert wurde.


Begünstigt durch Rückenwind fahren wir an unserem ersten Tag in Litauen fast 120 km. Da der bei Gelgaudiškis an der Memel verzeichnete Campingplatz nicht existiert und sich auch keine andere Übernachtungsmöglichkeit in dem kleinen Ort finden lässt, nehmen wir schließlich die Einladung unseres neuen Freundes Mindaugas an, auf dem Grundstück seiner Eltern zu zelten.


Mutter und Stiefvater von Mindaugas. Der Stiefvater spricht ein paar Worte Deutsch.


Wenn wir unterwegs sind, ist immer Gerold der Koch, während ich Tagebuch schreibe oder lese.



Am nächsten Morgen rüsten wir früh zum Aufbruch
und werden noch mit Gemüse aus dem Garten versorgt.


Unterwegs nach Jurbarkas: Abseits der Hauptstraßen gibt es in Litauen noch viele Pisten.


Dito.


Die Brücke über die Memel (lit. Nemunas) führt nach Jurbarkas auf der anderen Flussseite.


 Im Memelland: Hinter Jurbarkas fahren wir am rechten Ufer der Memel weiter,
die hier die Grenze zwischen Litauen und Russland bildet, und erreichen bald den kleinen Ort Viešvilė, ehemals Wischwill, das im einstigen Ostpreußen ein kultureller, kirchlicher und wirtschaftlicher Mittelpunkt einer großen Region beiderseits der Memel war.


Fast zwei Stunden harren wir in einem Bushäuschen gegenüber diesem Gebäude aus,
bis sich ein heftiges Gewitter entladen und abgeregnet hat.


Vilkyškia, ehemals Willkischken, gehörte früher wie das gesamte sogenannte Memelland
lange zu Ostpreußen, fiel nach dem Ersten Weltkrieg an Litauen, wurde 1939 wieder
dem Deutschen Reich angegliedert, bis die deutschen Memelländer 1945 ihre Heimat für immer verlassen mussten.


Inschrift am Kriegerdenkmal in Vilkyškia



  Das Memelland ging zusammen mit anderen Gebieten nach dem Ersten Weltkrieg durch den Versailler Vertrag verloren - Ergebnis der aggressiven Außenpolitik des Kaiserreichs. Aber noch viel größer waren die Gebietsverluste nach dem Zweiten Weltkrieg als Folge des von den Nazis 1939 angezettelten Eroberungs- und Vernichtungskrieges.
                              
      
Die junge Dame von der Touristeninformation in Vilkyškia, die perfekt Deutsch spricht, empfiehlt uns dieses urige Hotel bei Bardinai. In liebevoll renovierten Schulgebäuden, die über 100 Jahre alt sind, befinden sich hier verschiedene Unterkunftsmöglichkeiten  und ein hoteleigenes Restaurant, in dem wir hervorragend zu Abend essen.


Von unserem Hotel aus machen wir am nächsten Morgen über Waldwege einen Abstecher zum Rombinus-Hügel, im heidnischen Litauen eine der wichtigsten Kultstätten. Von dort oben hat man einen tollen Blick auf die Memel, zu der eine steile Holztreppe hinunterführt.
Auf der anderen Flussseite liegt Russland.


 Opferstein auf dem Rombinus


 Der sorgsam gepflegte Waldfriedhof von Bitėnai.


 In Bitėnai, ehemals Bittehnen, gibt es die größte Storchenkolonie des Memellandes.


Dito.


Bis Klaipėda ist es schon nicht mehr weit.


Immer wieder sehen wir dieses Verkehrsschild mit dem schwarzen Kreis -
was das wohl bedeutet?


Die EU hilft, dieses  Gebäude zu sanieren.

Spuren deutscher Vergangenheit wie hier an einem Haus in Šilute (dt. Heydekrug) findet man eher selten. Erinnerungen an die deutsche Geschichte des Memellandes sollten nach  dem Ersten und Zweiten Weltkrieg möglichst gelöscht werden..


 Dito.



Wellblech auf dem Weg nach Minija



Minija, am gleichnamigen Fluss gelegen, wird gerne als das "Venedig Litauens" bezeichnet,
was vielleicht ein bisschen übertrieben ist. Von hier aus nehmen wir die Fähre
nach Nida auf der  Kurischen Nehrung.


Minija von der Fähre aus gesehen


Bei der zweistündigen Überfahrt durch das Kurische Haff haben wir starken Wellengang.


Schönes Holzhaus in Nida auf der Kurischen Nehrung. Die rotbraune Holzverkleidung in der Farbe Ochsenblut und die blauen Fensterläden sind typisch für die Niddener Fischerhäuser.


200 steile Stufen führen hinauf zur Parniddener Düne bei Nida, auch Hohe Düne genannt.
Thomas Mann, der ein Ferienhaus in Nida hatte,  meinte 1929:
 "Die weiße Küste ist schön geschwungen, man könnte glauben in Afrika zu sein".


Im ehemaligen Ferienhaus von Thomas Mann, das er im Niddener Fischerstil erbauen ließ,
 ist heute ein Kulturzentrum untergebracht. Drei Sommer - von 1930 bis 1932 -
verbrachte der Schriftsteller hier mit seiner Familie.



                                Ferienhaushaus von Thomas Mann in Nidden
Thomas Mann und Familie vor dem Sommerhaus in Nidden.


                                  
                               Luftbild von Nidden
 Thomas Mann und Familie am Strand von Nidden (1930): Der Aufenthalt des berühmten Schriftstellers war eine gute Werbung für das Seebad. In seinem letzten Sommer auf der Kurischen Nehrung (1932) erhielt Mann, der immer wieder vor der drohenden Gefahr des Nationalsozialsmus gewarnt hatte, ein Paket mit einem angekokelten Exemplar der "Buddenbrooks". Für den Roman hatte er 1929 den Nobelpreis für Literatur erhalten.
1933 emigrierte Thomas Mann in die Schweiz und 1939 in die USA. Nachdem die Nationalsozialisten 1939 das Memelland  besetzt hatten, ließ Göring das Ferienhaus
der Manns beschlagnahmen. Bis zum Ende des 2. Weltkriegs diente es dann der Erholung von Offizieren  der deutschen Luftwaffe.



Von ihrem Ferienhaus hatten die Manns einen phantastischen Blick auf das Kurische Haff.


Von Nida führt ein sehr gut ausgebauter Radweg bis in den nördlichsten Zipfel der Kurischen Nehrung, die das Kurische Haff von der Ostsee trennt. Seit 1945 gehören die nördlichen 52 km zu Litauen, die südlichen 46 zum russischen Kaliningrad.


Leider beginnt es schon bald zu regnen und so wird uns die schönste Etappe in Litauen
durch schlechtes Wetter vermiest.


Blick auf das Kurische Haff von einem Aussichtspunkt


Oft fahren wir durch lichte Kiefernwälder.



Ein Holzbohlenweg führt hinauf zu den "Toten Dünen" zwischen Pervalka und Juodkrante.



Blick auf das Kurische Haff von den "Toten Dünen"


Zwischendurch zeigt sich auch mal kurz die Sonne.....


........ aber meistens gießt es wie aus Eimern.



Völlig durchnässt erreichen wir am Abend Smiltynė.
Von dort aus nehmen wir über die schmalste Stelle des Kurischen Haffs die Fähre zur gegenüberliegenden Hafenstadt Klaipėda. Das frühere Memel war bis 1920 die nördlichste Stadt Deutschlands und das Zentrum des Memellands.


 Der Theaterplatz mit dem Simon-Dach-Brunnen (rechts im Bild) gehört zu den
 bekanntesten Sehenswürdigkeiten in Klaipėda.


Die Brunnenfigur erinnert an das bekannteste Werk von Simon Dach, das ostpreußische Volkslied "Ännchen von Tharau". Nach dem Zweiten Weltkrieg kam im nun sowjetischen Klaipėda an seine Stelle eine Stalin-Büste. In den 80er Jahren schließlich wurde eine Nachbildung des Ännchens in Bronze gegossen und 1989 feierlich eingeweiht.



Der Simon-Dach-Brunnen mit Stalin-Büste.



Klaipėda: Auf dem Fluss Danė liegt das ehemalige Segelschulschiff "Meridianas",
 in dem heute ein Restaurant untergebracht ist.


Für Klaipėda bleibt uns leider nur ein halber Tag. Gegen Abend machen wir uns
auf den Weg zum Fährhafen, der weit außerhalb liegt.


Die Kieler Förde mit dem Marinedenkmal von Laboe:
 Nachdem die Fähre um 23 Uhr den Hafen von Klaipėda verlassen hat, erreichen wir
am nächsten Abend Kiel und fahren mit der Bahn zu Jörg nach Eckernförde.